Mahler, Gustav
Symphony No. 1 “Titan”
Gustav Mahlers Sinfonien sind in den vergangenen Jahrzehnten ein so selbstverständlicher Teil des Konzertrepertoires geworden, dass man bei Neuaufnahmen kaum noch auf Überraschungen hoffen darf. Allein die Suche nach der ersten Sinfonie führt bei JPC zu über 500 Ergebnissen. Doch es kann sich auch hier lohnen, genauer hinzusehen. Im Vergleich zu Bruckners Sinfonien und der Lyrik, die sich um all ihre Fassungen spinnt, wird bei Mahler wenig über unterschiedliche Versionen ein und desselben Werks diskutiert dabei war der komponierende Dirigent Mahler ein akribischer Tüftler, der ohne Unterlass an seiner Musik feilte, und sei es nur an Feinheiten.
Gerade die beliebte erste Sinfonie täuscht in ihrer (fast möchte man sagen: sattsam) bekannten Gestalt darüber hinweg, dass bei der Uraufführung 1889 in Budapest vieles noch ganz anders klang und noch nicht einmal recht klar war, ob das Werk eine Sinfonie werden sollte oder eine gewaltige Tondichtung. Der Originalklang-Spezialist Thomas Hengelbrock und sein NDR Sinfonieorchester haben sich nun aus nachvollziehbaren Gründen die Hamburger Fassung der Ersten von 1893 vorgenommen (erstmals nach einer neuen kritischen Gesamtausgabe) und dabei Erstaunliches zutage gefördert. Nur als Hintergrund sei auf das außermusikalische Programm (Der Titan) hingewiesen, das in Hamburg eingeführt und bald wieder zurückgezogen wurde, ebenso auf den Blumine-Satz an zweiter Stelle, der später wegfiel, aber doch nicht unbekannt ist.
Interessant sind gegenüber der üblichen Fassung die Details: Die erste Fanfare im ersten Satz wird hier beispielsweise von Hörnern gespielt und nicht von Klarinetten zugleich ganz aus der Ferne, was für Mahlers Wissen um die Wirkung von Klangräumen spricht, jedoch nur durch eine wirklich sehr gute Anlage (und im Konzertsaal) zufriedenstellend wiedergegeben wird. Im dritten Satz fehlt eine Wiederholung, im letzten Abschnitt ist die Lautstärke mehr abgestuft.
Doch dass man immer wieder über diese Aufnahme staunt, liegt beileibe nicht nur an der Fassung: Thomas Hengelbrock erweist sich einmal mehr als Magier der Klangfarbe und nimmt sich Freiheiten, die verblüffen und beglücken. Die Kuckucksrufe der Klarinette im ersten Satz zum Beispiel lässt er ganz frei spielen wann war der in der Spielanleitung beschriebene Naturlaut so plastisch greifbar? Bei Hengelbrock fließen die Tempi, das Forte erhebt sich elegant statt herrisch aufzutrumpfen, etwa im letzten Satz, wenn der große D-Dur-Choral erstmals von den Hörnern intoniert wird: keine Kraftorgie, sondern ein freudiger Gesang, der erstaunlicherweise noch weiter zurückgenommen wird, um später umso stärker hervorzubrechen. Und auch der dritte Satz gewinnt hier eine unerhörte Leichtigkeit mit seinen deutlich abgedämpften Schlusstönen, der luftigen Artikulation und den verzögerten Schlenzern. Hengelbrock und das bestens aufgelegte NDR-Orchester suchen nicht nach Effekten, sondern finden sie ganz natürlich in dieser wunderbaren Musik.
Johannes Killyen