Schostakowitsch, Dmitri

symphony no 1/symphony no 14

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI Classics 3580772
erschienen in: das Orchester 11/2006 , Seite 97

Allzu viele Werke von Dmitri Schostakowitsch haben die Berliner Philharmoniker bislang nicht eingespielt – zweimal die Sinfonie Nr. 10 mit Karajan, einige Sinfonien mit Bychkov, das erste Violinkonzert unter Abbado. Dies muss kein Nachteil sein: Unter der Leitung ihres Chefdirigenten Simon Rattle stürzen sie sich mit einem Entdeckergeist in diese Musik, der sie viele Nuancen finden lässt, die sonst oft verborgen bleiben. Dies zeigte sich bereits in der Live-Aufnahme des Violinkonzerts Nr. 1 mit Sarah Chang (EMI), und auch in den ebenfalls live aufgezeichneten Interpretationen der Sinfonien 1 und 14 findet sich so manche Offenbarung. Da stört es nur wenig, dass der Zugriff der Musiker quasi „von außen“ geschieht, ohne jene Vertrautheit, die beispielsweise russische Orchester mit dieser Musik verbindet.
Rattle leitet eine angemessen jugendlich klingende, dramatisch zugespitzte Darbietung von Schostakowitschs genialischem sinfonischen Erstling, die zwar erst im Scherzo wirklich zu sich selbst findet (im Kopfsatz bleibt manches noch etwas zaghaft und unentschieden), dafür aber im langsamen Satz und besonders im Finale mehr Verbindungen zum Reifestil des Komponisten aufzeigt, als dies gemeinhin geschieht, und zu einer wahrhaft rasanten Schlusssteigerung gelangt.
Zumindest auf rein orchestraler Ebene kann die Interpetation der Vierzehnten Referenzwert beanspruchen. Für Rattle ist sie die wichtigste Sinfonie Scchostakowitschs, und er teilt seine Faszination für diese elfsätzige sinfonische Kantate unmittelbar dem Orchester mit. Selten erklingen die zahlreichen bruitistischen Passagen (etwa in der „Loreley“ oder in den schmerzhaften Clustern des Höhepunkts von „Le Suicidé“ sowie in der fäusteschüttelnden Schlussgeste) mit einer solch brutalen Attacke und ein spezielles Lob geht an die beiden Kontrabassisten, die im einleitenden „De profundis“ abgrundtiefe Schwärze zum Klingen bringen.
Was die Leistungen der beiden Sänger angeht, lässt sich allerdings über das eine oder andere Detail streiten. Die Sopranistin Karita Mattila agiert gelegentlich, vor allem in den von ätzender Schärfe geprägten Sätzen wie der „Malagueña“ oder „Les Attentives I“ allzu sanft für die von ihr transportierten Textinhalte, und sowohl sie als auch der ansonsten bewunderungswürdige Thomas Quasthoff fühlen sich offenkundig im Russischen nicht wirklich zu Hause. Es gibt eine von Schostakowitsch ausdrücklich sanktionierte polyglotte Version der 14. Sinfonie, in der die Gedichte in ihrer jeweiligen Originalsprache gesungen werden. Vielleicht wären die Interpreten ja besser beraten gewesen, wenn sie diese Fassung gewählt hätten; Bernard Haitink war, in seiner Gesamtaufnahme der Schostakowitsch-Sinfonien bei Decca, einer der wenigen Dirigenten, die dies getan haben – mit überzeugendem Ergebnis.
Thomas Schulz