Mahler, Gustav
Symphony No. 1 D-Dur
Mahlers erste Symphonie in D-Dur gehört heute zum Standard-Repertoire der Symphonieorchester. Auch an Plattenaufnahmen des Werks ist kein Mangel, nicht wenige Dirigenten haben sie mehrfach aufgenommen. Und doch lässt sich das scheinbar so bekannte Werk auch ganz anders und neu hören. Das belegen zwei neue CD-Einspielungen der Ersten.
Die eine entstand mit dem SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter seinem Chefdirigenten Roger Norrington als Mitschnitt in der Stuttgarter Liederhalle. Roger Norrington musiziert seit einiger Zeit vermehrt auch spätromantische Musik in seinem längst schon sprichwörtlichen Stuttgart Sound. Die CD mit der ersten Sinfonie beweist, dass Norrington auch bei Mahler ebenso spannende und prägende Akzente setzt wie bei Beethoven, Berlioz, Schumann oder Brahms. Dank einer durch den weitgehenden Verzicht auf Vibrato gestochen scharfen und durchhörbaren Klanggestalt sowie ausgesprochen flüssigen und stringenten Zeitmaßen macht Norrington mit seinem exzellent spielenden und fest auf seinen Stil eingeschworenen Orchester unglaublich viele sonst untergehende Details hörbar. Er gibt dem in der fünfsätzigen Fassung mit Blumine an zweiter Stelle gespielten Werk eine leidenschaftlich bewegte und bewegende Gestalt. Es ist ein Mahler, der zeigt, wie modern und komplex die Erste in einem Spiel mit reinem, vibratolosem Ton klingt und wie rhythmisch straff, klanglich geschärft und impulsiv diese Partitur wirkt, wenn sie frei von (pseudo)romantischen Sentimentalitäten gespielt wird.
Bei der anderen Neuaufnahme liegt das Besondere, Neuartige weniger in der Art der Interpretation, wiewohl diese gelungen und durch Klangpracht sowie eine ebenso dramatisch akzentuierte wie weiträumige Anlage ausgezeichnet ist, sondern in der ungewöhnlichen Werkgestalt und in der höchst verblüffenden Verbindung der ersten Mahler-Sinfonie mit dem bis dato unbekannten Werk eines Zeitgenossen.
Das Philharmonische Orchester Hagen hat unter seinem jungen und zu Recht viel gelobten Generalmusikdirektor Anthony Hermus die Hamburger Fassung der ersten Sinfonie von 1893 eingespielt, bei der Mahler das Werk noch ganz in programmatischer Absicht Titan Eine Tondichtung in Symphonieform genannt hat. Das Werk ist in zwei Abteilungen Aus den Tagen der Jugend und Commedia humana untergliedert und enthält an zweiter Stelle den erwähnten Blumine-Satz. Auffällig sind im Unterschied zur heute üblicherweise gespielten Version die zahlreichen Unterschiede in der Instrumentation, die hier noch weicher und weniger charakteristisch erscheint.
Dass Mahler seine Partituren häufig überarbeitet hat, ist bekannt. Hier ist es nun am Fall der Ersten in aufschlussreicher Weise hörend nachzuvollziehen. Noch aufregender an dieser Einspielung, die gleich in zwei Scheiben als CD und DVD geliefert wird, ist der vor Mahlers Symphonie zu hörende Mitschnitt der Uraufführung der E-Dur-Suite von Mahlers Studienkollegen Hans Rott, die 1878 entstand, aber erst im April 2005 in Hagen zum ersten Mal erklang. Die Mahler-Nähe der E-Dur-Sinfonie von Hans Rott, die auch erst seit einigen Jahren im musikalischen Bewusstsein ist, steht außer Frage. Aus der jetzt bekannt gewordenen E-Dur-Suite Rotts hat Mahler für seine erste Sinfonie ganz konkret das apotheotische Choralthema für das Finale übernommen, das seinerseits in seiner Quartenstruktur im Anfang der Ersten grundgelegt ist. Diese Entsprechung eröffnet ganz neue interpretatorische Wege zum Verständnis der Ersten. Jörg Rothkamm geht im Booklet sogar soweit, den am Leben gescheiterten Hans Rott zum Helden der Ersten und Zweiten Mahlers zu erklären. Eine nach dem Hören dieser CD keineswegs abseitige These.
Karl Georg Berg