Bruckner, Anton
Symphony IX, Reloaded
Den Bruckner-Interpretationen von Peter Jan Marthé verdanke ich die erfrischende Erkenntnis, dass Menschen sich in Internetforen auch über klassische Musik austauschen. Über die Frage etwa, ob es statthaft sei, aus den drei Fassungen der dritten Bruckner-Sinfonie eine zu machen. Oder über eine Rekonstruktion des letzten Satzes der neunten Sinfonie, deren Autor allen Ernstes behauptet, Bruckner persönlich habe ihm befohlen, das Werk zu vollenden.
Peter Jan Marthé emotionalisiert, spaltet die Fachwelt und zieht neue Hörerschichten in seinen Bann. Das können nicht viele von sich behaupten. Viel zu lange waren Bruckners Symphonien Zankapfel einer elitären musikwissenschaftlichen Gelehrtenzunft, schreibt er. Die Sinfonien sind für ihn magische Rituale und Schlachtfelder, auf denen sich Dämonen und Heilige tummeln, schließlich Initiationsriten, die das Tor zu einer höheren Form des Daseins aufstoßen. Und dies ist wohl das zentrale Anliegen des ehemaligen Celibidache-Schülers, der sich in einem Indien-Aufenthalt östlicher Spiritualität zuwandte und zugleich überzeugter Christ ist: Bruckner von der Last der Philologie zu befreien, die Sinne frei zu machen für das unmittelbare musikalische Erleben.
Das fiele bei ganz normalen Interpretationen von Bruckner-Sinfonien freilich schwer, denn wodurch sollte gerade auf dem Schallplattenmarkt noch ein Alleinstellungsmerkmal zu erreichen sein? Ein wenig beckmesserisch darf man deshalb behaupten, dass die streitbaren Ergänzungen in der dritten und der neunten Sinfonie die Aufmerksamkeit für Marthés Anliegen deutlich befördert haben.
All das funktioniert freilich nur, wenn die Qualität stimmt. Und sie stimmt bei Peter Jan Marthé und dem European Philharmonic Orchestra, das sich in diesen zwei Livemitschnitten geschlossen und souverän präsentiert. Es kracht und donnert in der Linzer St. Floriansbasilika, doch wird hier kein reiner Bombast-Bruckner geboten, vielmehr eine höchst differenzierte, rhythmisch akzentuierte, gedehnte, aber nie zerdehnte Lesart. So zart und warm hat man sangliche Passagen selten gehört, selten so weich die Choräle.
Doch zurück zu Marthés Bearbeitungen: Sie haben ihm vor allem deshalb Schelte eingebracht, weil unterstellt wird, er wähne sich im Besitz des Wissens um die wahre Intention des Meisters. Das ist nicht ganz falsch, doch ist es Marthé eher darum zu tun, der authentischen Musikpraxis ihre Grenzen aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass ein Meisterwerk der Vergangenheit nur dann [atmet], wenn sich in ihm die unmittelbare Gegenwart widerspiegelt. Altes neu zu hören, darum geht es hier.
Und in der Tat: Wer Bruckners Dritte kennt, wird überrascht sein von der Fusion verschiedener Fassungen, von dem Positionstausch der Sätze zwei und drei, der dezent erneuerten Instrumentation (mit Kontrabasstuba) und den neu komponierten Passagen. Das Ergebnis erreicht auch wegen breiter Tempi nie da gewesene Ausmaße, enthält aber immer noch nicht alle wesentlichen Elemente der drei Bruckner-Fassungen und kann daher nicht mehr als ein beeindruckender Diskussionsbeitrag zum Thema sein. Warum der Dirigent sich hier für diese, dort für jene Version entscheidet, verrät er übrigens nicht.
Wie viel Dichtung schließlich in Marthés Schlusssatz der neunten Sinfonie steckt, das zeigt der Vergleich mit der Aufnahme eines Gesprächskonzerts, in dem Nikolaus Harnoncourt einmal Original-Fragmente vorgestellt hat. Marthé hat im Prinzip ein neues Werk komponiert, aber eines, das sehr nach Bruckner klingt. Und einem spätestens am Ende, wenn alle wichtigen Themen der Bruckner-Sinfonien 7 bis 9 zusammengewürfelt werden, gewaltige Schauer über den Rücken jagt. Marthés Aufnahmen verwirren bis zum Schluss und sie tun es schon beim Anblick des Covers, auf dem der Dirigent vor einem Sternenhimmel über eine Bruckner-Büste hinwegblickt. Bruckner Reloaded steht darüber. Willkommen zwischen Himmel und Hollywood.
Johannes Killyen