Bruckner, Anton

Symphony D minor “Nullte” WAB 100/3 Pieces WAB 97 / March WAB 96

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Musikproduktion Dabringhaus und Grimm MDG 9371673-6
erschienen in: das Orchester 11/2011 , Seite 73

In den einleitenden Bemerkungen des jüngst erschienenen, höchst informativen Bruckner-Handbuchs (Metzler/Bärenreiter) betont der Herausgeber Hans-Joachim Hinrichsen, wie irritierend die Person Bruckners wirkt. Ebenso irritierend stellen sich nicht nur die Umarbeitungsaktivitäten des Komponisten dar, die Dirigenten bei der Wahl der Fassungen vor grundlegende Entscheidungen stellen. Und auch mit der „Nullten“ Sinfonie hat er, wie Wolfram Steinbeck im Bruckner-Handbuch weiter ausführt, nicht nur bei Musikologen für einige Verwirrung gesorgt. Denn die d-Moll-­Sinfonie WAB 100 entstand nicht, wie lange angenommen, von Oktober 1863 bis Mai 1864, also vor der von Bruckner als erste Sinfonie gezählten in c-Moll (komponiert 1865/66), sondern 1869. Die „Null“ war von Bruckner denn auch nicht als Zahl gemeint, sondern als durchgestrichene Null, als Tilgungszeichen. Bruckner hatte das Werk, das die Bezeichnung „Symphonie gNo 2“ trug, bis in die Anfänge der 1870er Jahre für gültig gehalten; erst danach annullierte er das Werk und erklärte es als „ganz ungiltig“.
Stefan Blunier und sein Beethoven Orchester Bonn haben nun eine sehr ansprechende Einspielung der „Nullten“ vorgelegt, die vielleicht auch andere Dirigenten zur näheren Beschäftigung mit dem Werk veranlassen könnte. Blunier und sein Bonner Orchester setzen damit ihre erfolgreiche Zusammenarbeit mit MDG fort, die weitere seltene Werke wie die 4. Sinfonie von Franz Schmidt, Eugen d’Alberts Der Golem oder jüngst eine reizvolle Respighi-CD hervorgebracht hat.
Im Gegensatz zu der Einspielung von Stanislaw Skrowaczewski mit der soliden Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken – dies eine sehr positiv aufgenommene Gesamteinspielung der Bruckner-Sinfonien – wählt Blunier eher breitere Tempi, die er aber auch dank des hochklassigen Orchesterspiels mit Spannung füllen kann. Blunier setzt bei diesem hervorragend aufgenommenen Livemitschnitt – die MDG-Aufnahmetechnik sorgt trotz der erwünschten Transparenz und Feinzeichnung des Orchesterklangs für einen runden, weichen Raumklang – auf große Farbigkeit und Instrumentaldetails, die aber nie zum Eindruck eines einseitig analytischen Ansatzes führen. Bemerkenswert sind auch der dynamische Feinschliff und die sehr sorgfältig vorbereiteten dramatischen Höhepunkte. Die weich-geschmeidigen Streicher, die prononcierten Holzbläser und die kraftvollen, dennoch eleganten Blechbläser des Beethoven Orchesters können sich hier bestens in Szene setzen. Die für Bruckners Stil typischen Elemente wie orchestrale Steigerungstechniken und choralartige Passagen sind ebenso wie ausgeprägte Kontrapunktik schon in der „Nullten“ zu finden. Blunier formt hier eine bezwingende Sicht auf die Musik.
Der Marsch WAB 96 und die Drei Orchesterstücke WAB 97 führen in die Schülerzeit Bruckners zurück und in die frühen 1860er Jahre. Von seiner Genialität sind hier trotz der ansprechenden Interpretation der Bonner nur Spuren zu hören.
Leider nicht ganz auf der Höhe des Orchesterspiels und der Aufnahme­technik ist das Booklet mit seinen Furtwängler-Zitaten, die ein längst überwunden geglaubtes Bruckner-Bild beschwören.
Walter Schneckenburger