Tscherepnin, Alexander / Alban Berg
Symphonisches Gebet / Russische Tänze / Suite op. 87 / Lulu-Suite
Sein sehr großes Temperament ist immer durch strenge kompositorische Exaktheit gezügelt; seine musikalische Konstruktion ist immer klar. Die Themen sind deutlich, sehr eigenartig und expressiv. Diese Expressivität ist jedoch niemals eindringlich; man findet keine Sentimentalität in seinen Stücken. So charakterisierte der im Pariser Exil lebende russische Musikkritiker Wiktor Grigorjewitsch Walter im Jahr 1924 das Werk seines jungen Landsmanns und ebenfalls Emigranten Alexander Nikolajewitsch Tscherepnin. Das Werk von Alexander Tscherepnin, der bereits seinen Lebzeiten zu den bekanntesten im Ausland lebenden russischen Komponisten zählte, erweckt in letzter Zeit immer größere Aufmerksamkeit. Erwähnenswert ist eine große Tscherepnin-Sammlung, realisiert von der schwedischen Firma Grammofon AB BIS.
Die CD von Colosseum Classics präsentiert verschiedene Entwicklungsstadien im Schaffen dieses Komponisten, seine wichtigsten Ideen und Konzepte. In den Russischen Tänzen op. 50 (1933) zeigt sich Tscherepnin als Erbe des Mächtigen Häufleins und Zeitgenosse Igor Strawinskys sowie als Weltbürger, dessen Nationalvorstellungen durch andere Kulturen erweitert und bereichert sind. Die nationale Idee zeigt sich im musikalischen Material, dem die russische Folklore zugrunde liegt; die Quellen bleiben aber selten erkennbar (wie etwa im vierten Satz, wo die berühmte Kamarinskaja zu hören ist). Vielmehr werden verschiedene Folkloregattungen zitiert. Die Raffinesse der Orchestration Tscherepnins wird immer taktvoll und korrekt von den Nürnberger Symphonikern unter der Leitung von Zsolt Déaky übertragen.
Dass Tscherepnin der russischen Idee treu blieb, lässt auch die 1953 entstandene Suite für Orchester op. 87 nachvollziehen. Das erste Finalthema erklingt wie eine Anspielung auf verschiedene russische Lieder. Der Stil ist jedoch mehrdimensional: Beispielsweise erscheint im selben Satz auch ein chinesisches Volkslied. Auch Themen wie Einsamkeit und Zusammensein, Kommunikation und Konflikte spielen eine Rolle, und wie wichtig gerade sie für den Komponisten waren und wie kompliziert seine Weltanschauung war, bezeugt eine Äußerung Tscherepnins: Ich habe ungefähr vierzig Länder besucht, hieß überall willkommen, fühlte mich aber nirgendwo zuhause. Mein einziges Zuhause ist meine Innenwelt, die immer dieselbe bleibt und ihrem eigenen Entwicklungsweg folgt. Die präzise Interpretation der Nürnberger Symphoniker, geleitet von Othmar M. F. Mága, passt sehr gut zum etwas distanzierten, zugleich aber lebendigen Habitus des Komponisten.
Das Porträt Alexander Tscherepnins wird durch das Symphonische Gebet op. 93 (1959) vollendet, einem Werk, in dem die Elemente russischer Liturgie mit der herben Harmonik und dem originellen Modalsystem des Komponisten verflochten sind. Mit großer Überzeugung und Kraft wird das Stück von den Nürnberger Symphonikern unter der Leitung von Günter Neidlinger interpretiert.
Neben Tscherepnins Aufnahmen, die bestimmt zu einer wachsenden Popularität dieses Meisters beitragen werden, präsentiert die CD auch einen anerkannten Klassiker der Neuen Musik, die Lulu-Suite (1929/34) von Alban Berg. In diesem Teil müssen sich die Interpreten wiederum die Nürnberger Symphoniker unter Leitung von Othmar M. F. Mága mit ganz besonderen Herausforderungen auseinander setzen, nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen, da dieses Meisterwerk bereits mehrmals aufgenommen wurde. Diese Aufgabe erfüllen sie mit Erfolg, obschon Bergs Fans vielleicht andere Interpretationen bevorzugen würden. Besonders gelungen erscheinen der zweite Satz (Ostinato/Allegro), die Vokalszenen (Lied der Lulu und Worte der Gräfin Geschwitz), feinfühlig dargestellt von der Sopranistin Eva Brink, sowie das Schlussstück.
Marina Lobanova