Henze, Hans Werner

Symphonies 1 & 6

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6724 2
erschienen in: das Orchester 12/2013 , Seite 77

Seine Sechste, die „Cubanische Sinfonie“, und die Erste, Klaus Geitel zufolge Henzes „Symphonie classique“ – das sind Stücke, wie sie unterschiedlicher, konträrer gar, in Bezug auf Material und Tonsprache, auf Ästhetik und Haltung nicht sein könnten. Dennoch besitzen sie Gemeinsamkeiten: als Bekenntniswerke und Tabubrüche, als Werke des Scheiterns, denen auch der Impuls zum schöpferischen Neuansatz innewohnt – die Anzahl der Sinfonien bezeugt dies am Ende ebenso wie der „symphonische Habitus“ (Hanspeter Krellmann) eines ganz dem Medium Theater verfallenen Œuvres.
21-jährig legte Hans Werner Henze die 1. Sinfonie vor, zu einer Zeit, in der sich die Neue Musik auf Schönbergs und Weberns Spuren vorwärtsbewegte. Sein Bekenntnis zur Gattungstradition bezog Igor Strawinskys Neoklassizismus mit ein, der den konzertanten, mediterran gefärbten und im „Notturno“ überaus kantablen Klangspielen als Vorbild diente. Bei den Darmstädter Ferienkursen 1947, im Entstehungsjahr der Sinfonie, hat Hermann Scherchen diesen langsamen Mittelsatz vorgestellt. Die „zarte, aber starke Lyrik“, auch Henzes Unbefangenheit, erfuhr Anerkennung; er selbst wertete seinen sinfonischen Erstling, von Wolfgang Fortner 1948 in Bad Pyrmont komplett uraufgeführt, als „reinen Fehlschlag“; 1964 und 1991 präsentierte er dann die Neufassungen mit den Berliner Philharmonikern.
Auch die Sinfonia N. 6 für zwei Orchester, die Henze 1969 in Havanna mit dem dortigen Nationalorchester aufgeführt hat und „die Affirmation, direktes Bekenntnis zur Revolution“ und zum Befreiungskampf der Dritten Welt sein will, erfuhr eine Revision: 1994 hoben Ingo Metzmacher und die Münchner Philharmoniker „das vervollständigte, völlig auskomponierte Neuwerk mit hellen Ohren und Herzen aus der Taufe“. Alte Formen wie Sonate und Fuge, die das neuartige Klangbild nicht mehr an die Oberfläche treten lässt, und auch Henzes Interesse für Folklore hatten das Komponieren gelenkt: „Meine Sechste, eine lutherisch-protestantische Sinfonie, hat einen heidnischen Corpus, sein Pulsschlag und sein Blutdruck sind schwarz. Das kommt von der Mythologie her und aus der mythologisch zu verstehenden Rhythmik der Musik, Ausdrucksmittel der einst nach Kuba verschleppten und dort sesshaft gewordenen Afrikaner, einer Musik, die heute so lebendig und unwiderstehlich ist wie je.“ Liedzitate aus Vietnam und von Mikis Theodorakis scheinen flüchtig auf; der Mittelsatz ist die „Vertonung“ eines „verzweifelten Liebesgedichts von Miguel Barnet, einem modernen kubanischen Dichter“. Doch das Werk war zunächst nicht mehr als „ein Bericht von den Schwierigkeiten“, eine Sinfonie und politische Musik zu schreiben. Lebendig und unwiderstehlich – auch die Neueinspielung der beiden Stücke wirkt so, ganz gleich, ob sie von apollinischer Helligkeit oder dunkel glühender Leidenschaft durchdrungen sind, ob klare Linien gezeichnet oder ständig fließende, komplizierte Texturen bewältigt werden müssen. Exzellent.
Eberhard Kneipel