Piotr Ilitch Tchaikovsky

Symphonien Nr. 5 & 6

Orchestra della Svizzera italiana, Ltg. Markus Poschner

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Claves Records (2 CDs)
erschienen in: das Orchester 7-8/2024 , Seite 72

Wenn sich heute in den Konzertprogrammen eine der „großen“ Sinfonien Tschaikowskys ankündigt, ist das zweifellos ein Grund zu besonderer Freude für alle Konzertbesucher: Die vierte, fünfte und sechste Sinfonie des russischen Meisters zählen nun einmal zu den „Schlachtrössern“ des Genres und der heutige Konzertbesucher reibt sich verwundert die Augen (und vielleicht auch die Ohren), wenn er vernimmt, dass Tschaikowsky gerade mit seiner Fünften, seiner „Schicksalssymphonie“ so gar nicht zufrieden war. Er hielt sie für „zu bunt, zu massig, zu unaufrichtig, zu lang und überhaupt wenig ansprechend.“
Nun, wohl, man kann dieses Werk auch weniger gelungen interpretieren. Ganz anders selbstverständlich bei und unter Poschner: Hier wird eine höchst ansprechende und schön bunte Sinfonie intoniert. Man fragt sich etwas erstaunt, wo Poschner so viel und so gut „Russisch“ gelernt haben mag. Seine Interpretation mit den äußerst präzisen und einfühlsamen Italoschweizern z. B. vom russischen Nationalorchester unter Mikhail Pletnev zu unterscheiden, fällt wahrlich nicht leicht – vielleicht, dass Pletnev eine Spur bedächtiger intoniert, Poschner an einigen Stellen eine Idee, nein: ein Ideechen dramatischer agiert als sein russischer Kollege (sowohl Poschner als auch Pletnev mögen es mir nachsehen, aber die Einspielungen, die Roždestvenskij 1972 mit dem Großen Symphonieorchester der UdSSR vorgelegt hat, halte ich auch nach einem halben Jahrhundert für immer noch maßstabgebend. Vielleicht nur eine Marotte?).
Im Unterschied zu seinem „Stiefkind“ war Tschaikowsky über seine hochtragische Sechste, auch wenn es in diesem Zusammenhang recht widersprüchlich klingen mag, außerordentlich glücklich: „In diese Sinfonie legte ich ohne Übertreibung meine ganze Seele“, schreibt er und fährt fort: „Ich halte sie für das beste, namentlich aber für das aufrichtigste aller meiner Werke.“ Lange hat er sich diese Freude nicht bewahren können: nur neun Tage nach der Uraufführung verstarb er.
Im Falle der Pathétique sind die interpretatorischen Unterschiede etwas deutlicher, wenn auch hier nicht gleich gravierend! Im letzten Satz gibt Pletnev der Tragik, der Verzweiflung, mehr Raum als Poschner, während jener die anderen drei Sätze deutlich temperamentvoller, ja, auch zupackender angeht. Freilich, ohne dass Poschner deshalb in die Langeweile abdriftete.
Friedemann Kluge