Mahler, Gustav

Symphonien Nr. 1-9 / Adagio aus der Sinfonie Nr. 10

13 CDs

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler 93.130
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 83

Wenige Dirigenten wissen so viel über Mahler wie Michael Gielen, der dem titanischen Œuvre des großen Sinfonikers verbunden ist wie einem guten Freund. Gielen musiziert Mahler nicht nur, er spricht auch über ihn und hat vor zwei Jahren einige dieser Gespräche in einem Buch festhalten lassen (Michael Gielen/Paul Fiebig: Mahler im Gespräch – Die zehn Sinfonien, Stuttgart 2002; siehe Besprechung in Das Orchester 11/02, S. 81). Ein bequemer Mahler-Interpret aber ist er sicher nicht, ja bequem sind seine Einspielungen ohnehin selten. Nicht zuletzt im Hinblick auf Tempi hat Gielen oft eine eigenwillige Position vertreten. Die Wiener Philharmoniker brachte der heute 77-Jährige in Mozarts Es-Dur-Sinfonie KV 543 mit einem raschen Beginn aus der Fassung, Beethovens Sinfonien trieb er systematisch die Behäbigkeit aus.
Für das berühmte Adagietto aus der fünften Mahler-Sinfonie braucht Gielen in einer Einspielung aus dem Jahr 2003 – die jetzt im Paket mit allen Mahler-Sinfonien vorliegt – nur achteinhalb Minuten, wo Bernstein sich elf Minuten Zeit nimmt und Fabio Luisi mit dem MDR-Sinfonieorchester gar 12 Minuten 37 Sekunden. Mahler selbst brauchte neun Minuten. „Es ist schon ein sehr hübscher Satz“, sagt Gielen, „aber er darf nicht gewichtig sein, er muss wie im Traum vorübergehen.“
Der gebürtige Dresdner behält stets die große Form im Blick und trachtet zugleich danach, jedes Detail vollkommen auszuarbeiten, anders gesagt: ein dialektisches Gleichgewicht zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen herzustellen. Er ist stets auch der Skeptiker, der hinter dem Pathos gerade bei Mahler einen Hohlraum vermutet und in Erklärungsnöte gerät, wenn etwa in der Siebenten der hymnische Schlussjubel kein Ende nehmen will. Das Ganze, so Gielen dazu kritisch, sei eine „äußere Zeremonie“, eine „Stickdeckchen-
Sache“ und letztlich bewusst zelebrierter Kitsch.
Die meisten der zehn Mahler-Sinfonien liegen in Einspielungen von Michael Gielen und dem SWR Sinfonieorchester (früher SWF) auch einzeln vor. Und vielleicht sind die bereits vorhandenen CDs dem jetzt erschienenen Gesamtpaket sogar vorzuziehen, denn dort wird Mahler sinnreich in Beziehung zu Schubert, Berg, Webern oder auch Schönberg gesetzt. Dennoch ist die Box mit 13 CDs alles andere als überflüssiger Luxus: Weil Gielens Mahler-Lesart eigenständig und wegweisend ist – und weil von ihm nun neu auch die fünfte und die neunte Sinfonie vorliegen.
Freilich lassen sich Gielens Mahler-Interpretationen nicht über einen Kamm scheren, doch gibt es deutlich erkennbare Grundpfeiler: Er musiziert gerne leicht, zügig und ohne übertriebene Bedeutungsschwere, die emphatisch erigierte Geste (die andere Dirigenten gerade bei Mahler ausgiebig pflegen) liegt ihm nicht. Eine seiner Maximen könnte, überspitzt formuliert, lauten: Präzision statt Emotion.
Das verwirrt nicht nur im Prinzip, sondern auch beim ersten Hören mancher Aufnahme. Denn dieser zwischen Welt und Gegenwelt, Todestrauer und höchstem Entzücken taumelnden Musik Mahlers scheint man nüchtern nicht beikommen zu können. Und tatsächlich enttäuschen bei Gielen die Kopfsätze etwa der sechsten und der siebenten Sinfonie in ihrer akademischen Gemessenheit. Doch der große Protagonist der neuen Musik hat beim Beginn eines Werks stets auch schon das Ende im Blick, lässt die Form nie aus den Händen gleiten und verschießt sein Pulver nicht vorschnell. Überrascht stellt man irgendwann – in der Durchführung eines ersten Abschnitts oder auch in einem späteren Satz – fest, dass die oft unspektakulär inszenierte Akribie des Dirigenten und seines zumeist exzellenten SWR-Orchesters eine Sogwirkung entwickelt, der man sich nur schwer entziehen kann.
Das gilt sicher auch für die neu vorliegende fünfte Sinfonie, deren Trauermarsch (Untertitel: „Wie ein Kondukt“) sich fortschleppt wie ein Leichenzug
im knietiefen Schlamm; deren Scherzo (mit dem Hornsolo) ebenso leichtgewichtig vorüberzieht wie das bereits erwähnte Adagietto, während das an sich ausgelassene Finale auch in der Heiterkeit nicht übermütig wird. Beeindruckender aber ist Gielens ebenfalls neue Aufnahme der neunten Sinfonie. Er, der nach eigenem Bekunden einst bei Schönberg seine Liebe zur Klassik entdeckt hat und sich der Meinung Adornos anschließt, wonach der Kopfsatz der Neunten das erste Stück der neuen Musik sei, ist hier in seinem Element. Die neuartige Polyfonie kann Gielen stringent und linear entwickeln, das Gewebe stets bis auf den Knochen frei legend, ohne dabei unlyrisch zu werden. Wie subtil er musizieren lässt, wie durchdacht seine Klangregie ist, das betört. Konsequent lässt Michael Gielen den langsamen Schlusssatz auseinander fallen, gleichsam als Botschaft an eine spätere Welt, in der die Bruchstücke unseres Lebens nicht mehr zu kitten sind.
Johannes Killyen