Gustav Mahler

Symphonie Nr. 9

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Simon Rattle

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BR Klassik 900205
erschienen in: das Orchester 6/2023 , Seite 68

Das letzte vollendete Werk des österreichischen Komponisten Gustav Mahler wurde und wird von vielen Dirigent:innen als eine besondere Herausforderung empfunden. Für Simon Rattle, ab der Saison 2023/24 neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, ist Mahlers Neunte ein „absolut existenzielles Werk“. In ihm gehe es „um die ganze Welt“, so der Maestro im Booklet zur CD-Einspielung. „Die Sinfonie kann nach tiefschwarzer Depression klingen, aber auch nach Liebe und Sehnsucht“, so der Dirigent. Kurzum: Eine überzeugende Interpretation erfordert einen Offenbarungseid aller Beteiligten, verlangt ein Offenlegen der eigenen Seele.
Rattle und die Münchner Musiker:innen lösen ihn glaubhaft ein. Mit hörbarer, geradezu unmittelbarer Direktheit lassen sie die Musik erklingen, die aus dem Nichts kommt und im Nichts verschwindet, die gleichermaßen von Abschied (von der Romantik) und Aufbruch (in die Moderne) kündet, Transzendentales mit überaus Irdischem verbindet. Ihr feuriges, drängendes, von höchster Spannung erfülltes und sinnfälliges Musizieren mündet dabei immer wieder abrupt ins Getragene, grotesk Verzerrte, Trauermarschierende oder in den katastrophischen Zusammenbruch. Kein Wunder, dass der Grundton der Neunten zweifellos an die Abgründe des menschlichen Seins rührt. „Die eine Neunte geschrieben haben“, orakelte Arnold Schönberg in seiner Gedenkrede auf Mahler, „standen dem Jenseits zu nahe. Wer darüber hinaus will, muss fort.“ Wie Beethoven, Schubert und Bruckner.
Ein pianissimo gestrichener Celloton, ein leise gezupftes Harfenmotiv münden in ein Seufzermotiv, das quasi als „Urmotiv“ in allen vier Sätzen auftaucht. Wiegende Streicherakkorde singen es aus. Zusätzlich sorgt stockender Rhythmus für ein beklemmendes, ahnungsvolles Gefühl. Und wenn zweite Violine und Horn im Dialog stehen, verbreiten sich aus den Lautsprechern wehmütig-verträumte Erinnerungen und Sehnsucht. Ein dramatischer Tutti­schlag, der von Posaunen, Pauken und den Bassinstrumenten bestimmt wird, zerbricht diese Idylle. Aus der Konfrontation beider Sphären entsteht ein nahtloses Klanggewebe, durch das sich der Eindruck einer existenziellen Erschütterung einstellt. Weitere Steigerungswellen durchziehen auch die anderen Sätze. Der zweite, ein ins Groteske verzerrtes Scherzo mit trivial verfremdeten Rhythmen von Walzer und Ländlern, wird nach Mahlers Vorschrift „etwas täppisch und sehr derb“ musiziert. Auch hier stehen Härte und Weichheit in ständigem Kontrast. Faszinierende Klangfarbenspiele kommen durch die perfekte Aufnahmetechnik zu exzellenter Wirkung, ebenso wie das sich in transzendenten Sphärenklängen auflösende finale Adagissimo. Ein ergreifend musizierter „Abschied der Musik von der Welt des Irdischen“ (Renate Ulm)!

Peter Buske

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