Tschaikowsky, Peter

Symphonie Nr. 6 h-Moll “Pathétique”

Rubrik: CDs
Verlag/Label: TDK TDK-MA301
erschienen in: das Orchester 05/2008 , Seite 63

Die beiden Aufnahmen dokumentieren – neben anderen, inhaltlichen Eindrücken – vor allem einen Wert: den des deutschen Orchesterniveaus mit dem Prädikat „Stadt“. Hier spielt keines der großen klassischen und international geforderten Ensembles aus Berlin, München, Köln, Bamberg oder Hamburg. Sondern es handelt sich um ein normales A-Orchester, das mit seinen Anfängen allerdings schon ins frühe 19. Jahrhundert reicht. 1976 wurde es das Sinfonieorchester, das es noch heute darstellt: eine flexible Formation mit knapp 80 Musikern, die gleichermaßen bei Oper/ Operette und Konzert im Einsatz in der bergischen Stadt sind.
Kamioka übernahm die GMD-Stelle 2004 von dem US-Dirigenten George Hanson. Der japanische Musiker, Schüler von Klauspeter Seibel in Hamburg, arbeitete bisher in Kiel, Essen (Aalto-Theater), Herford (Nordwestdeutsche Philharmonie) und Wiesbaden (Staatstheater). Seit drei Jahren leitet er außerdem eine Dirigier-Klasse an der Musikhochschule des Saarlandes.
Tschaikowksy und Bruckner – zwei bedeutende sinfonische Beispiele aus dem späten 19. Jahrhundert, Musik, in der sich Kamioka bestens auskennt. In beiden Fällen steuert er aus der Ruhe vor dem schicksalhaften Sturm die dramatischen und harmonischen Höhepunkte mit Kenntnis, Kraft und Kompetenz an. Aber seine Führung wirkt in keinem Moment stur oder nur aus dem Bauch heraus. Er ist ein Architekt des sinfonischen Aufbaus aus den melodischen Modulen heraus. Er benötigt die langsamen, meditativen, episch angelegten Kopfsätze zur Entwicklung von organischen Steigerungen: in der Stille liegt seine Energie. Dieser Eindruck drängt sich bei Tschaikowsky wie bei Bruckner auf. Er beherzigt alle Bausteine für diese sinfonischen Biografien – gewissermaßen Bekenntniswerke mit direkten Querverbindungen zu persönlichen Stationen.
Bei Kamioka kommt hinzu, dass er bewusst langsame, aber nie lahmende Tempi wählt. Das Feierliche des Romantikers Bruckner, der mit größter Bescheidenheit seinen Platz in der sinfonischen Geschichte behauptet, kommt seinem Anspruch, Musik als Seelenspiegel zu erkennen, entgegen. Der Dirigent misst die Dimensionen beider Großwerke – Bruckners Siebte dauert rund 90 Minuten – mit Muße und innerer Anteilnahme aus. Die Musik wird zur Projektionslandschaft von Gefühlen, Sehnsüchten, Herausforderungen, Kühnheiten, Zielvorstellungen. Bei dem Russen kippt diese Haltung im Allegro con grazia in die fiebrige Eleganz, im Vivace in eine marschähnliche Parade. Bei dem Österreicher hört sich Kamiokas Interpretation wie ein vierteiliges Gebet oder wie eine himmlische Botschaft an. Die typisch brucknerschen Längen und Crescendi, die so gern vor dem Olymp abbrechen oder gar in sich zusammenfallen, nutzt er, um die harmonische Avantgarde gerade auch der 7. Sinfonie – Beispiel Finale – facettenreich zu erkunden und edel auszuschöpfen.
Beide Einspielungen, aufgenommen übrigens jeweils in der wunderschönen Historischen Stadthalle von Wuppertal, zeugen von einem heiligen Ernst, wie Toshiyuki Kamioka an seine Musikaufgaben herangeht und sie mit allen Klangraffinessen meistert. Wie gesagt: Die Sinfoniker dieses Orchesters leisten Außerordentliches. Die Aufnahmen lassen sich problemlos mit denen größerer und gefeierter Ensembles vergleichen. Das Publikum in der Doppelstadt (Elberfeld und Barmen) kann sich über diese Qualitätsoffensive seines Stadtorchesters freuen. Denn die sinfonischen Höhepunkte, die mit Tschaikowsky und Bruckner aus unterschiedlicher Warte heraus verbunden sind, bleiben in jedem Detail erhalten. Dank Kamioka, dessen Wirken am Pult charismatischen Regeln unterliegt – Schönheit (Bruckner) und Krise (Tschaikowsky) bekommen ihre volle Würdigung. Beide CDs wurden gefördert von der Konzertgesellschaft Wuppertal.
Jörg Loskill