Tschaikowsky, Pjotr Iljitsch
Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74 “Pathétique”
Allzu leicht dient uns Peter Tschaikowskys Gefühlsmusik allein als Blaupause romantischer Tonkunst in diesem Fall geschöpft aus den Quellen des Don und der Wolga. Hier übersteigerte Künstlichkeit, dort
ein wenig harmonisches Parfüm, da russischer Herzschmerz und kräftige, vaterlandshuldigende Wildheit. Vor allem fasziniert freilich die melodische Kraft in den Werken des depressiven Komponisten. Dabei hat Thomas Mann so treffend beschrieben, was hinter der Melodienseligkeits-Fassade Tschaikowskys wirklich steckte: Seine neurotische Unrast, seine Komplexe und seine Ekstasen, seine Ängste und seine Aufschwünge, die fast unerträgliche Einsamkeit, in der er leben musste, der Schmerz, der immer wieder in Melodie, in Schönheit verwandelt sein wollte.
So lässt Mann in seinem großen Künstlerroman Symphonie Pathétique Tschaikowsky auf die Frage, was denn die Sechste für ein Werk sei, antworten: Ein Requiem. Düstere Todesahnungen lasten demnach auch in Dmitrij Kitajenkos Deutung von Tschaikowskys Opus 74 über den ersten Takten. Aber der russische Dirigent, der gerade mit dem Gürzenich-Orchester Köln alle Prokofiew-Sinfonien vorgelegt hat, schwelgt nicht allein in der Jenseitssucht eines menschenscheuen, vor sich selbst flüchtenden Künstlers. Kitajenko offenbart ebenso viel Sinn und Gespür für die lebensfrohen und farbigen Seiten dieser Höhen und Tiefen durchleuchtenden Lebensbeschreibung in Tönen. Wie schon bei den Prokofiew-Aufnahmen kommt ihm dabei der durchweg musikantisch-straffe Zugriff zugute. Die weiten Aufschwünge aus der Seelenhölle flirren vor Leichtigkeit auch dank der äußerst inspiriert muszierenden Gürzenicher bis ins blechschwere vierfache Forte hinein.
Die stets mitschwingende Melancholie entbehrt keinesfalls des Sentiments, doch verliert sich Kitajenko auch nicht in herzzerreißender Larmoyanz. Sein Kopfsatz-Seelenthriller mit vielfachem Tempowechsel hat bei allem Oberflächenglanz Tiefe, als hätte Darren Aronofskys Schwanensee-getränktes Psychospiel Black swan mit der Oscar-prämierten Natalie Portman Pate gestanden.
Im 5/4-Takt-Walzer des zweiten Satzes ist sie freilich wieder präsent: diese wunderbare Melodienseligkeit, die aber angesichts des teilweise fast schon sakralen Impetus, den Kitajenko im Final-Andante zelebriert, zum Tschaikowsky-Melodien-Segen mutiert. Das ist dann doch ein wenig zu viel des Guten. Und so muss man befürchten, dass diese stringente und klare Interpretation, die trotz der Vielzahl der konkurrierenden Einspielungen aufgrund der substanziellen und ungetrübten Tschaikowsky-Sicht durchaus Referenzstandard besitzt, an diesem gebündelten Leid eines ganzen Lebens zerbricht. Doch auch diese Gefühlsklippe umschifft Kitajenko am Ende geschickt, drängt trotz schmelzendem Seufzermotiv der Geigen zur finalen Erlösung. Hier machen Dmitrij Kitajenko und das Gürzenich-Orchester eindrucksvoll deutlich, dass diese Symphonie eben nicht allein das plakativ-pathetischste, sondern tatsächlich auch das aufrichtigste aller Werke, so der Komponist selbst, von Tschaikowsky ist.
Christoph Ludewig


