Beethoven, Ludwig van

Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Orfeo C 600 031 B
erschienen in: das Orchester 07-08/2004 , Seite 78

Carlos Kleiber macht sich rar, im Konzertsaal wie auf Schallplatte. Das gehört zu seinem Image. Seine offiziellen, derzeit im Katalog geführten Aufnahmen kann man an zehn Fingern abzählen: einige Sinfonien von Beethoven, Schubert und Brahms, Verdis La Traviata, Wagners Tristan und Isolde, Webers Freischütz, Neujahrskonzerte mit den Wiener Philharmonikern…
Da ist es fast automatisch eine Sensation, wenn ein bislang unveröffentlichtes Tondokument des Maestro erscheint – die Aufmerksamkeit ist garantiert, das Repertoire eher Nebensache. Im Falle dieses Live-Mitschnitts der 6. Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit dem Bayerischen Staatsorchester wird gleich eine Story mitgeliefert, die eigentlich unglaublich klingt. Die Aufnahme entstand am 7. November 1983 im Nationaltheater in München. Das Band überstand aber die Lagerung nicht schadlos und konnte deshalb nicht veröffentlicht werden. Grundlage dieser CD-Produktion ist eine Kompaktkassette aus dem Besitz von Kleibers Sohn, die besser geklungen habe als das Masterband – so zu lesen im Textheft zur CD. Tontechnisch wurde versucht, das beste aus der Kassette herauszuholen. Das Resultat ist zufrieden stellend, jedoch mit einer erstklassigen Bandaufnahme nicht zu vergleichen. Die Streicher klingen relativ dünn, der Rauschpegel liegt höher, als man es von einer Aufnahme aus dieser Zeit erwarten würde. Doch entscheidend ist, dass die Tonqualität ausreicht, um Kleibers Intentionen zu vermitteln.
Es ist nicht selbstverständlich, dass ein so genialer Repertoire-Klassiker wie Beethovens Pastorale immer wieder auch zu einem Erlebnis wird, jeder Winkel dieser Partitur scheint ausgedeutet. Aber Kleiber gelingt es, das bis zum Verschleiß gespielte Stück satzübergreifend unter Spannung zu setzen und mit Leben zu füllen. Mit Tempi, die straffer sind als gewohnt, weil sie sich an Beethovens Metronomangaben orientieren. Kleiber fordert lieb gewonnene Hörgewohnheiten heraus, er reißt den Hörer aus schläfriger Beschaulichkeit und lässt ihn wieder scharfe Konturen sehen. Staub fliegt von der Partitur wie von altem Porzellan, dessen Farben wieder auffrischen. Seltsam unorthodox wirken die Schlussakkorde. Scheinbar muss das Publikum erst realisieren, dass das Stück zu Ende ist. Zögerlich und unentschlossen entwickelt sich der Applaus, der schließlich in Ovationen mündet. In einem Extra-Track sind die euphorischen Beifallsbekundungen dokumentiert, fast vier Minuten lang…
 
Norbert Hornig

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