Rachmaninov, Sergej

Symphonie Nr. 3/Sinfonische Tänze

Gürzenich-Orchester Köln, Ltg. Dmitrij Kitajenko

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics OC 442
erschienen in: das Orchester 04/2016 , Seite 74

Ich muss bekennen, dass Rachmaninows dritte Sinfonie für mich weitgehendes Neuland ist; in einem öffentlichen Konzert habe ich sie noch nie erlebt und erinnere mich lediglich an eine Jahre zurückliegende Rundfunkübertragung, deren dünnes Resümee meinerseits damals in etwa lautete: „Naja, geht so…“ Um jetzt festzustellen, dass ich hier dem aufgesessen bin, was ich für mich das „Haydn-Phänomen“ zu nennen mir angewöhnt habe: Die meisten der überlieferten 107 Sinfonien des Wiener Meisters wirken langweilig, sind Knospen, die geschlossen bleiben. So lange, bis plötzlich ein begabter Dirigent daher kommt, der diese Musik wirklich zu interpretieren versteht (und das sind keineswegs immer die großen Namen!) – und siehe da, Haydn erblüht auf einmal in voller Pracht, man erkennt ihn einfach nicht wieder!
So auch hier: Es bedurfte wohl eines Dmitrij Kitajenko, um – mit den freilich bestens aufgelegten Gürzenichern – die prachtvolle Klangwelt der 1936 vollendeten, aber schon bei der Uraufführung „unverstandenen“ und trotz Leopold Stokowskis Dirigat sogar durchgefallenen Dritten voll zur Entfaltung zu bringen. Kitajenko lässt vor den Ohren des geneigten Hörers einen Rausch an Farben entstehen, der nicht von ungefähr an Farbtupfer aus Mahlers bisweilen rätselhafter siebenter Sinfonie erinnert. Die damals offenbar von dem Werk überforderte Kritik: „Man hat den Eindruck eines frustrierten, hilflosen Anstürmens gegen ein Hindernis.“ Immerhin hatte der Komponist selbst, sonst eher von Selbstzweifeln gequält, an dieses Werk geglaubt: „Ich selbst bin fest davon überzeugt, dass dies ein gutes Werk ist.“ Kitajenko, ohnehin prädestiniert für russische Programme, ist der Prinz, der Rachmaninows Dritter den keineswegs hilflosen Dornröschenkuss gibt, sie aus ihrem noch nicht ganz hundertjährigen Schlaf erwachen und das von jenem Kritiker beschworene Hindernis – die Dornenhecke – nicht spüren lässt. Großartig! Unbedingt eine Referenz-Aufnahme!
Recht zufrieden, wenn auch nicht ganz so enthusiastisch bewerte ich die häufiger zu hörenden, 1941 uraufgeführten Sinfonischen Tänze, in denen Rachmaninow in gewisser Weise sein gesamtes vorheriges Schaffen resümiert, insofern er in diesem Opus ultimum zahlreiche Themen aus früheren Werken anklingen lässt. Mir liegt in der Version Kitajenkos das Gewicht zu sehr auf dem Sinfonischen und zu wenig auf dem Tänzerischen. Da ist beispielsweise Rattle mit den Berliner Philharmonikern einfach leidenschaftlicher und schmissiger oder, etwas salopp ausgedrückt, bei denen zuckt es mehr in den Beinen als bei Kitajenko (worauf es bei einem Tanz ja letztendlich ankommt; auch wenn man versucht ist anzunehmen, dass Rachmaninow den Begriff „Tanz“ eher in Ermangelung anderer Charakterisierungen gewählt hat). Die Bewertung ist hier, wie so oft, wohl einfach eine Frage des Geschmacks und der eigenen Hörgewohnheiten.
Friedemann Kluge