Mahler, Gustav
Symphonie Nr. 10
Rekonstruktion und Orchestrierung nach Mahlers Entwurf von Rudolf Barshai, Partitur
Wer einmal Gelegenheit hatte, ein autografes Manuskript oder wenigstens ein Faksimile von Gustav Mahlers Handschrift in Händen zu halten, weiß, welche schwierige und kaum zu bewältigende Aufgabe denjenigen erwartet, aus einer schier unübersichtlichen Gemengelage aus Noten, Zeichen und Anweisungen so etwas wie eine Symphonie zu erstellen. Wenn darüber hinaus diese Symphonie lediglich aus Particellentwürfen, fast unleserlichen Skizzen, zahlreichen Streichungen sowie aus Einfügungen besteht, welche in diesem Stadium nicht frei von Fehlern sind, dann ist vor solch einem Rekonstrukteur ehrfurchtsvoll der Hut zu ziehen.
Inzwischen liegen von der 10. Symphonie Mahlers, neben den zahlreichen Bearbeitungen des berühmten Adagio, insgesamt sechs veröffentlichte Gesamtversionen vor, wovon die vorliegende von Rudolf Barshai nicht einmal die jüngste ist. Der 1924 geborene russische Dirigent und Bratschist hatte sich als Bearbeiter von verschiedenen Werken bereits einen Namen gemacht. Sein Kompositionslehrer Dmitri Schostakowitsch soll ihn schon in den 50er Jahren auf den mahlerschen Torso hingewiesen haben und der Gedanke, die 10. Symphonie irgendwann zu einem eigenständigen Leben zu erwecken, ließ Barshai nicht mehr los.
Seine Absicht war, im Gegensatz zur cookschen Bearbeitung, welche für ihn eine unschätzbare Pionierarbeit leistete und die er wesentlich als Vorlage benutzte, den vollen Klang des Mahlerorchesters zu entwickeln. Dabei stützte er sich auf seine langjährige Erfahrung als Dirigent und verließ sich auf sein persönliches Gespür, ob etwas zu Mahler passt. Außerdem wollte Barshai, so weiter im Vorwort von Bernd Feuchtner, Mahlers Manuskript möglichst nahe kommen. Die Hauptarbeit lag daher in der Lösung umstrittener Stellen, sei es dass die Bezeichnungen unklar sind oder außergewöhnliche harmonische Konstellationen zeitigen. Harte Dissonanzen wurden von den bisherigen Bearbeitern meist aufgeweicht, statt der Frage auf den Grund zu gehen, ob es sich um einen Lesefehler, einen Irrtum Mahlers oder einen tieferen Zweck in der Gesamtform handelt schließlich war Mahler in seinen letzten Werken bis in die Nähe der Zwölftonmusik gelangt. Solche Fragen und andere kaum zu lösende Probleme seien keine philologische Tüftelei, sondern Fragen des Inhalts. Der Schluss der Symphonie darf keineswegs bittersüß erscheinen er changiert zwischen Bitterkeit und Ruhe. Der Zweifel verlässt Mahler nicht, und deshalb muss es an einigen Stellen wehtun.
Blickt man jedoch auf das große Instrumentarium, fällt das übergroße Schlagwerk mit 18 Perkussionsinstrumenten auf, insbesondere die doppelt besetzten Xylofone. Marimbafon, Crotales, Gong, Kastagnetten und Holzblock verwendete Mahler in seinem Instrumentarium nie, Crotales und Holzblock waren zu Lebzeiten Mahlers noch nicht einmal bekannt. Ob hier die unmittelbare Nähe und der Einfluss Schostakowitschs nicht doch zu sehr durchscheinen? Auch das Blech, verstärkt durch die beiden Kontrabass-Tuben, sechs Hörner und Tenorhorn, ist etwas zu sehr aufgebläht, als dass es typisch für Mahler wäre. Fehl am Platz ist auch das Kornett in Es vermutlich als Piston-Ersatz, ein Instrument, das vorwiegend in der Militärmusik gebräuchlich war: Aber auch das gibt es bei Mahler nicht. Zudem bleibt in der Partitur ein Geheimnis, was noch Mahler und was schon Barshai ist.
Davon abgesehen, dass die Partitur unter dem DIN-A4-Format, das manchmal über 30 Systeme aufnehmen muss, etwas klein geraten ist, bleiben leider viele Fragen offen, die hier nicht erörtert werden können. Wer sich für die anderen fünf Gesamtversionen oder für die Skizzen der 10. Symphonie interessiert, sei an das im Jahr 2003 erschienene Buch Gustav Mahlers Zehnte Symphonie von Jörg Rothkamm verwiesen.
Dennoch bin ich der Überzeugung, dass Rudolf Barshai als erfahrener Bearbeiter, hoch geachteter Dirigent und profunder Mahler-Kenner alles richtig gemacht hat: Mahler wäre mit dieser Bearbeitung in Teilen sicherlich hochzufrieden gewesen.
Werner Bodendorff