Günter Raphael
Symphonie Nr. 1 a-Moll op. 16
ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Ltg. Fabian Eders
Gut Ding will Weile haben. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten veröffentlichen kleinere Platten- und CD-Labels sukzessive Werke des Komponisten Günter Raphael (1903-1960), „eines der besten Talente der jüngeren deutschen Generation“, wie Wilhelm Furtwängler 1936 in einer Stellungnahme für den am Konservatorium entlassenen und von endgültigem Berufsverbot bedrohten Sohn eines jüdischen Vaters schrieb. Bereits zehn Jahre zuvor hatte er die Uraufführung der etwas mehr als einstündigen ersten Symphonie des damals 23-Jährigen geleitet.
Raphael hat sich sein Musikstudium zu Beginn der 1920er Jahre zum Teil durch regelmäßige Aufritte in Kirchen und Stummfilmkinos finanziert. Zudem erwarb er durch das intensive Studium von Partituren aus allen Epochen einen enormen Fundus an Wissen. Beides vereint er in seiner Symphonie Nr. 1, in der er, sich souverän über Epochen- und Stilgrenzen hinwegsetzend, mit Fantasie und Lust eine Perlenkette aus Überraschungen und Brüchen schuf.
Die 2024 entstandene Einspielung des Radio-Symphonieorchesters Wien spiegelt den Witz, die Unbefangenheit und stilistische Vielfalt dieses zuvor nie auf Tonträgern veröffentlichten Werks. Ähnlich, wie sich in Filmen einzelne Szenen mit unterschiedlicher emotionaler Bedeutung und Wirkung aneinanderreihen, fügt Raphael vor allem im ersten Satz kürzere Stimmungsmomente aneinander. Mit viel Fingerspitzengefühl für diese permanenten Änderungen schafft der Dirigent Fabian Enders einen durchgängigen Bogen, in dem liebliche Momente und Unruhe, sanfte Melodien und breite Flächen, dezente Dissonanzen und strahlende Passagen, schroffes Blech und wärmendes Holz aufeinanderfolgen.
Der zweite, mit „langsam“ überschriebene Satz und der dritte, den sich Raphael „äußerst schnell“ wünscht, gehen nahtlos ineinander über. Zu Gunsten längerer Entwicklungslinien gestaltet Enders das thematische Material als steten Fluss mit gelegentlich unruhigen Untertönen. Der vierte Satz („langsam – lebhaft“) vereint raffiniertes Wabern und heroische Fanfaren, lyrische Träumereien und tänzerisches Springen sowie weitere Stimmungsbilder zu einer abwechslungsreichen Ereigniskette.
Wer all dies beherrscht und so fantasievoll wie Raphael instrumentiert, hatte beste Voraussetzungen für eine große Karriere – allerdings nur bis zur Machtübernahme der Nazis, die ihn 1939 endgültig mit Berufsverbot belegten. Er erkrankte an Tuberkulose, überlebte dank mehrerer Helfer das Naziregime, gab nach 1945 Konzerte und wurde von Hochschulen angestellt, war aber als Komponist bis zu seinem Tod im Jahr 1960 nicht mehr so produktiv wie in der Zeit vor 1933. Die Österreicher haben mit Raphaels erster Symphonie ein anspruchsvolles, angenehm zu hörendes Werk in den Konzertsaal geholt.
Werner Stiefele


