Berlioz, Hector

Symphonie fantastique/La Mort de Cléopâtre

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI 50999 2 16224 0 3
erschienen in: das Orchester 02/2009 , Seite 66

Noch eine Symphonie fantastique? Der bösen Rezensentenfrage ließe sich entgegnen: Wenn so wie hier, dann immer gern! Womit über die vorliegende Produktion schon beinahe alles gesagt ist. Die brandneue Einspielung von Berlioz’ sinfonischem Erstling rangiert auf beeindruckend hohem Niveau. Diese Berliner, ein in den zwei Jahrzehnten seit dem Tod Herbert von Karajans nachgerade runderneuertes Orchester, bieten in Fülle, was anspruchsvolle Hörer unserer Tage von einem Spitzenorchester erwarten dürfen: nicht allein homogenen Schönklang, Brillanz und Perfektion in den Soli und Gruppen-Soli, sondern Transparenz, Beweglichkeit und die Fähigkeit zu höchst lebendiger, variabler Phrasierung, wozu unter anderem ein kalkulierter Umgang mit dem Parameter Vibrato gehört, jener mörderischen Kleistermasse, die noch zu Karajans Zeiten weitgehend hemmungslos aufgetragen wurde.
Die Berliner des frühen 21. Jahrhunderts können, wenn es die Stilistik erfordert, klingen wie ein Originalklang-Ensemble und im nächsten Moment mit üppiger romantischer Klanglichkeit aufwarten. Zeugnisse dieser bemerkenswerten Qualität, zweifellos eine wesentliche Leistung des Orchesterpädagogen Simon Rattle, vernehmen wir bereits in der langsamen Einleitung des ersten Satzes: Aus perfekt ausbalanciertem Stimmensatz wachsen emphatisch pulsierende und zugleich exakt geformte Motivstrukturen heraus. Und anschließend im „idée fixe“-Hauptthema: In geradezu exaltiertem Ton spüren die 1. Geigen den Regungen des berauschten Helden nach, und doch klingt alles wie aus einem Guss. Grandios!
Ähnlich Lobendes ließe sich über schlechthin jede Instrumentalfarbe dieses Klangkörpers berichten – wann etwa hätte man die kontrollierte Ekstase der Klarinetten im finalen Hexensabbat schon so zwingend gehört? Doch dient die ganze Herrlichkeit zu keinem Zeitpunkt bloßer Zurschaustellung orchestralen Könnens, sondern stets dem Ziel, ein an Details überreiches Werk in größtmöglicher Deutlichkeit wiederzugeben. Simon Rattles Fähigkeit, eine Partitur hinsichtlich ihrer Klang-, Balance- und Tempodispositionen aufzuschlüsseln und seine Vorstellungen dem Orchester zu vermitteln, scheint unbegrenzt.
Viermal bewarb sich Berlioz um den begehrten Rom-Preis. 1830 errang er ihn mit der konventionellen Kantate La Mort de Sardanapale, während seine originellste Rom-Preis-Komposition, die Kantate La Mort de Cléopâtre 1829 leer ausging. Die amerikanische Mezzosopranistin Susan Graham wird dank ihrer nuancenreichen Stimmkunst den Anforderungen des beeindruckend expressiven Werks in dieser Neueinspielung glänzend gerecht.
Ein Kuriosum am Rande, das Hörvergnügen kaum schmälernd: Bei 12’52” des ersten Satzes ist den Verantwortlichen offenkundig ein Schnittfehler unterlaufen. Ein in der Partitur nur einmal erscheinender G-Dur-Akkord ist hier zweimal zu hören.
Gerhard Anders