Dutilleux, Henri

Sur le même accord

Nocturne für Violine und Orchester, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2005
erschienen in: das Orchester 05/2006 , Seite 80

Henri Dutilleux ist nicht nur einer der prominentesten zeitgenössischen Komponisten, sondern er ist auch einer der wenigen, die gleichermaßen Musiker und Zuhörer begeistern können. Mit seiner zwar komplexen und vielschichtigen, immer aber direkt fassbaren und musikantischen Tonsprache versteht er es, intellektuellen Anspruch und emotionale Tiefe äußerst sinnfällig zu verbinden. Dutilleux’ Kompositionen haben einen hohen Grad an Wiedererkennungswert, sind deshalb aber nicht austauschbar oder gar auf Schablonen reduziert. Und sie klingen bisweilen geradezu klassisch, ohne akademisch zu sein.
Henri Dutilleux schreibt gerne für Solisten und großes Orchester. Widmungsträgerin (und wohl auch ein wenig Quelle der Inspiration) des vorliegenden, 2001/02 entstandenen Nocturnes für Violine und Orchester mit dem Titel Sur le même accord ist Anne-Sophie Mutter, der Dutilleux den hochexpressiven und -kantablen Solopart in die Finger geschrieben hat. Das rund 10-minütige, einsätzige Werk ist ganz zentriert auf die Violine und einen aus sechs Tönen bestehenden Akkord, der als Linie Struktur und als Klang Farbe in die fünf symmetrisch angeordneten Kompositionsteile bringt.
Die schnelleren Rahmenteile beschwören dabei zunächst eine Atmosphäre, die vielleicht mit dem Beginn oder den Nachtmusiken aus Gustav Mahlers siebter Sinfonie vergleichbar ist, sich dann aber zu bisweilen machtvoller Größe im vollen Orchester aufschwingt. Dabei besitzt auch das Tutti noch eine enorme Tiefenschärfe und viele gliedernde Strukturen.
Die beiden fast noch deutlicher vom Solisten beherrschten Lento-Passagen bieten einen quasi überströmenden Gesang, ein trotz des begrenzten Rahmens breit angelegtes und tonlich aufgeweitetes Arioso von teils beeindruckender Schönheit. Das Nocturne endet übrigens (ganz entgegen der ersten Erwartung) nicht in der lichten Weite des Beginns, sondern prägnant und scharf artikuliert im Fortissimo.
Die bei Schott erschienene Studienpartitur in klingender Notation bringt die vielgestaltigen Strukturen von Dutilleux’ Musik übersichtlich zur Geltung und ist sicher der ideale Ausgangspunkt zum Kennenlernen der sich bereits optisch sehr gut erschließenden Komposition. Und zusammen mit Anne-Sophie Mutters vor zwei Jahren eingespielter Aufnahme des Nocturnes mit dem Orchestre National de France und Kurt Masur dürfte die Partitur sicher sehr schnell zur weiteren Verbreitung eines Werks beitragen, das trotz seiner Kürze ein hohes Repertoire-Potenzial hat: Herausfordernd in Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeiten und gleichzeitig dankbar für den Solisten und das Orchester – und verständlich und zugänglich für das Publikum bereits beim ersten Hören.
Daniel Knödler