Pegelhoff, Ralf
Suchthilfe und Suchtprävention
Die Betriebsvereinbarung am Niedersächsischen Staatstheater Hannover
Ausgangspunkt der Betriebsvereinbarung zur Suchthilfe und Suchtprävention der Niedersächsischen Staatstheater GmbH ist die Anerkenntnis der Tatsache, dass es in jedem Betrieb einen prozentualen Anteil von ein bis drei Prozent (statistisches Mittel [1]) der Belegschaft gibt, die ein Problem mit Alkohol oder Drogen hat. Darüber hinaus stellt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) in einer Pressemitteilung vom 7. April 2010 fest, dass trotz eines geringen Rückgangs in der ein oder anderen Bevölkerungsgruppe 9,5 Millionen Menschen in Deutschland Alkohol in riskanter Weise konsumieren. Von den 9,5 Millionen konsumieren zwei Millionen Menschen Alkohol missbräuchlich, 1,3 Millionen abhängig.[2] Auch künstlerische Betriebe und Orchester sind davon betroffen, der ein oder andere Orchesterkollege wird dies bestätigen können.
Wie aber soll oder kann man damit umgehen? In der Regel ist es ein Tabu, Kollegen direkt auf das Thema anzusprechen. Hilflosigkeit, fehlendes Regelwerk und gegebenenfalls auch aggressives Verhalten der möglicherweise Betroffenen verhindern oft einen sachgerechten Umgang mit dem Thema. Gerade auch Vorgesetzte weichen dem Thema aus oder reagieren halbherzig. Die Ursachen dafür liegen in einer Mischung aus Mangel an klaren Regeln, aus einer Geschichte heraus, in der zumindest Alkohol als geduldete Droge im Theaterbetrieb ihren festen Platz hatte (manchmal auch noch hat), und einem Mangel an Schulung hinsichtlich der möglichen Gefahren für die Betroffenen, für die Arbeitssicherheit und das Betriebsklima und wie man diesen Gefahren wirksam begegnen sollte.
In der Präambel des Entwurfs zur Betriebsvereinbarung des Niedersächsischen Staatstheaters Hannover wird festgestellt, dass Missbrauch von Suchtmitteln die physische und psychische Gesundheit schädigen und darüber hinaus die soziale Kompetenz beeinträchtigen. Suchtmittelmissbrauch liegt vor, wenn Suchtmittel konsumiert werden, obwohl leistungseinschränkende, gesundheitliche oder soziale Folgen sichtbar oder spürbar werden, auch ohne dass eine Abhängigkeit eingetreten ist.
Suchtmittelabhängigkeit ist eine Erkrankung, die gekennzeichnet ist durch immer wiederkehrende Situationen, die sowohl das familiäre, soziale und kollegiale Verhältnis stören und die Arbeitsfähigkeit des Betroffenen und möglicherweise die Arbeitssicherheit einschränken. Den mit einer Suchtmittelproblematik konfrontierten Vorgesetzten kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Die Vereinbarung soll Möglichkeiten sachgerechten Handelns aufzeigen, bis hin zu arbeitsrechtlichen Maßnahmen.
Betriebsvereinbarung
Ziele
– Sensibilisierung aller Beschäftigten für das Problem des Suchtmittelkonsums
– Suchtverhalten soll vermieden und abgebaut werden.
– Die Vereinbarung soll Vorgesetzten und Mitarbeitern eine einheitliche Richtlinie an die Hand geben, um die Gleichbehandlung aller Beschäftigten zu gewährleisten.
– Suchtmittelgefährdeten und -abhängigen sollen frühzeitig sachgerechte Hilfsangebote aufgezeigt werden.
– Die Arbeitssicherheit soll erhöht werden.
Verbot des Suchtmittelkonsums
Grundsätzlich soll gelten, dass der Konsum von Substanzen, die Rauschwirkungen nach sich ziehen, während der Arbeitszeit sowie vor der Arbeit mit Wirkung auf die Arbeitszeit nicht gestattet ist. Als Ausnahmen gelten feierliche Anlässe wie z. B. Premierenfeiern, Betriebsfeiern, offizielle Empfänge, Geburtstags- und Weihnachtsfeiern für alle Mitarbeiter, die anschließend keinen Dienst mehr haben. An diesem Punkt gibt es noch Klärungsbedarf zwischen der Geschäftsführung und dem Betriebsrat (s.u.).
Erste Ansprache/Klärungsgespräch
Liegt bei Beschäftigten auf Grund des Arbeitsverhaltens die Vermutung nahe, dass ein Suchtmittelgebrauch oder eine Suchtmittelabhängigkeit vorliegt, sind alle Beschäftigten aufgefordert tätig zu werden. Der Betroffene soll angesprochen und auf geeignete Hilfemöglichkeiten hingewiesen werden. Insbesondere Vorgesetzte sind dazu verpflichtet. Dieser Überlegung liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Tolerieren oder Decken einer Suchtmittelproblematik zur Verschlimmerung der Situation führen kann. Im Fall von Arbeitspflichtverletzungen, die möglicherweise ursächlich mit einer Suchtmittelproblematik in Zusammenhang stehen, soll der Vorgesetzte dies in einem Klärungsgespräch ansprechen.
Hilfsmöglichkeiten
Im Betrieb soll ein Beauftragter für Suchtfragen benannt werden. Dieser unterliegt der Schweigepflicht. Als weitere Ansprechpartner gelten der betriebsärztliche Dienst und der Betriebsrat. Als externe Ansprechpartner kommen psychosoziale Beratungsstellen und Suchtberatungsstellen in Betracht, auf die im Anhang verwiesen wird.
Verhalten bei akutem Suchtmittelkonsum
Suchtmittelmissbrauch vor oder während der Arbeitszeit stellt, wenn noch keine krankhafte Abhängigkeit eingetreten ist, eine schuldhafte Arbeitspflichtverletzung dar. Im Fall des Missbrauchs wird der Betroffene angehört und darauf hingewiesen, dass sein Verhalten nicht geduldet wird und zu weiteren Maßnahmen führen kann.
Darüber hinaus hat der Vorgesetzte nach Feststellung des Missbrauchs unter Zuhilfenahme weiterer Personen als Beweishilfe (Vorgesetzter einer anderen Abteilung oder einem Betriebsratsmitglied) die Möglichkeit, gegebenenfalls die Verpflichtung (bei möglicher Gefährdung in sicherheitsrelevanten Bereichen), den Betroffene auf dessen Kosten nach Hause oder ins Krankenhaus zu schicken, wobei die Verantwortung für den sicheren Transport beim Vorgesetzten liegt.
Zur Klärung der Frage, ob der Betroffene unter Suchtmitteleinfluss steht, gilt der Beweis des ersten Anscheins sowie die allgemeine Lebenserfahrung. Eines tatsächlichen Nachweises (z.B. einer Alkoholmessung) bedarf es nicht. Für die Zeit des suchtmittelbedingten Ausfalls wird kein Arbeitsentgelt gezahlt. Diese Möglichkeit besteht im Übrigen bereits durch die Unfallverhütungsvorschrift der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 38).
Stufenplan: Vorgehen bei Suchtmittelabhängigkeit
Kernstück der Betriebsvereinbarung ist der Stufenplan, der dann greift, wenn ein Beschäftigter gewohnheitsmäßig in übermäßiger Weise Suchtmittel konsumiert und dies nicht reduzieren oder aufgeben kann. Die Erfahrungen im Umgang mit Suchtkranken haben gezeigt, dass vor allem die Ergänzung von Unterstützungsangeboten und der Aufbau von Leidensdruck im Rahmen eines Stufenplans dazu führen, dass die Betroffenen sich ihrer Suchtproblematik stellen und in der Lage sind, das Ausmaß der Krankheit zu erkennen und zu bekämpfen. Vernachlässigt ein Beschäftigter seine arbeitsvertraglichen Pflichten und steht dies sehr wahrscheinlich mit Suchtmittelmissbrauch oder -abhängigkeit in Zusammenhang, sind Vorgesetzte verpflichtet nach diesem Stufenplan vorzugehen.
Findet eine positive Verhaltensänderung des Betroffenen statt, wird der Stufenplan ausgesetzt. Alle Beteiligten des Stufenplans unterliegen der Schweigepflicht gegenüber unbeteiligten Dritten.
Der Stufenplan gliedert sich in fünf Stufen. Auf jeder Stufe findet ein vertrauliches Gespräch zwischen dem Betroffenen und dem Vorgesetzten, später zusätzlich mit nächsthöheren Vorgesetzten, der Personalleitung, dem Suchtbeauftragten, einem Vertreter des betriebsärztlichen Dienstes und/oder einem Betriebsrat statt.
Die Vernachlässigung von Arbeitspflichten wird jeweils anhand konkreter Zeiten und Vorfälle benannt. Der Vorgesetzte spricht seine Besorgnis des Suchtmittelmissbrauchs aus und fordert den Betroffenen auf (auf höheren Stufen erfolgt eine schriftliche Anordnung), sich bei der Bekämpfung der Sucht fachlich beraten und unterstützen zu lassen. Hilfsangebote werden unterbreitet. Dem Betroffenen werden die Erwartungen an ein zukünftiges Arbeitsverhalten deutlich gemacht. Die Gespräche (Stufen) werden im sechswöchigen Abstand vereinbart. Von allen Gesprächen werden schriftlich Protokolle angefertigt und dem Betroffenen ausgehändigt. Ab der dritten Stufe kommen arbeitsrechtliche Schritte und zusätzliche Auflagen in Betracht, z.B. eine Abmahnung aus verhaltensbedingten Gründen, ein individuelles Alkoholverbot als Zusatz zum Arbeitsvertrag, eine Prüfung, ob der Betroffene für bestimmte Tätigkeiten noch geeignet ist, Streichung tariflicher Zulagen, Versetzung. Als letzte Maßnahme (Stufe 5) kann eine verhaltensbedingte Kündigung ausgesprochen werden.
Wiedereingliederung
Führt der Betroffene im Rahmen des Stufenplans eine erfolgreiche Therapie durch, findet ein Wiedereingliederungsgespräch statt. Dem Betroffenen wird sein alter oder ein vergleichbarer Arbeitsplatz angeboten. Ist auf Grund eines Suchtmittelmissbrauchs eine Kündigung erfolgt und wird eine erfolgreiche Therapie nachgewiesen, wird ein Wiedereinstellungsgesuch des Betroffenen wohlwollend geprüft.
Dieser Entwurf orientiert sich an bestehenden Betriebs- oder Dienstvereinbarungen, wie sie bereits in vielen Betrieben und neuerdings auch in einigen Theatern bestehen. Grundsätzlich ist der Betriebsrat der Niedersächsischen Staatstheater GmbH wie die Geschäftsführung der Auffassung, dass die vorliegende Betriebsvereinbarung einen wichtigen Schritt zur Sensibilisierung der Betriebsangehörigen und zur Klärung des sachgerechten Umgangs mit Suchtmitteln darstellt. Der Schwerpunkt sollte nach Auffassung des Betriebsrats das Angebot zur Hilfe sein, weniger die mögliche Sanktionierung und eine dadurch bedingte Gefahr der Willkür durch Vorgesetzte. Andererseits zeigt die Erfahrung, dass gerade die Androhung von Sanktionen bis hin zur Kündigung zu einer Verhaltensänderung von Betroffenen führt.
Streitpunkt Ausnahmen vom Alkoholverbot
Ein bisher verbliebener Streitpunkt ist das Thema Ausnahmen vom Alkoholverbot. Nach Auffassung des Betriebsrats kann es bei zu großzügigen Ausnahmen zu Unklarheiten kommen. So eindeutig die Abgrenzung bei einer Premierenfeier möglich sein kann, bei feierlichen Anlässen, die tagsüber stattfinden und damit in der Kernarbeitszeit vieler Beschäftigter, könnte es zu Glaubwürdigkeitsproblemen kommen, wenn auf der Ebene der Abteilungsleiter oder der Geschäftsführung zu bestimmten Anlässen ein Glas Sekt gereicht wird. Ist dies im Dienst oder gehört dies bei Vertragsabschlüssen dazu?
So schwierig es sein wird, ein totales Alkoholverbot in künstlerischen Betrieben durchzusetzen, so wichtig ist es, Ausnahmen klar einzugrenzen und von der oberen Führungsebene vorbildliches Verhalten einzufordern und gegebenenfalls auch dort Maßnahmen zu installieren, die jedem Gefühl einer Zwei-Klassen-Gesellschaft den Nährboden entziehen. Der Betriebsrat befürwortet mehrheitlich ein Alkoholverbot im gesamten Theater, weil nach seiner Auffassung nur dadurch ausreichende Klarheit im Umgang mit Alkohol gegeben ist.
Zumindest sollte für alle nachvollziehbar und nachprüfbar sein, dass während der Dienstzeit kein Alkohol oder ähnliche Substanzen konsumiert werden dürfen. Alkohol und Höchstleistung passen nicht zusammen. Nur durch ein klares Bekenntnis zu dieser Feststellung und den entsprechenden Verhaltensanweisungen kann es gelingen, Betroffene zu einer Reflexion ihres Verhaltens zu bewegen.
Notwendige Schulungsmaßnahmen
Eine solche Betriebsvereinbarung macht nur Sinn, wenn gleichzeitig entsprechende Schulungsmaßnahmen angeboten und installiert werden. Alle an verantwortlicher Stelle Beschäftigte (Abteilungsleiter, Meister, Vorarbeiter, Ausbilder, Betriebs- oder Personalräte, Sicherheitsbeauftragte etc.) sollten systematisch über Suchtmittelmissbrauch und seine Folgen informiert werden. Der Schulung des Personenkreises, die die Gespräche im Rahmen des Stufenplans zu führen haben, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Darüber hinaus sollten in betrieblichen Informationsveranstaltungen entsprechende Informationen auch an alle anderen Beschäftigten weitergegeben werden, um Verhaltenssicherheit zu gewähren und durch gezielte Informationen Verhaltensänderungen zu initiieren.
Der ein oder andere Kollege wird sicher beklagen, dass solche Betriebsvereinbarungen Dinge zu regeln versuchen, für die es früher keinen Regelungsbedarf gegeben hat und die eigentlich völlig unnötig sind. Die Veränderungen in vielen Bereichen der Gesellschaft machen aber einen anderen Blickwinkel auf Konfliktfelder wie Suchtmittelmissbrauch, Mobbing und angrenzende Themen erforderlich. Allein durch die Zunahme des Leistungsdrucks, dem gerade auch Führungskräfte unterworfen sind und der in vielen Bereichen für alle Beschäftigte spürbar wird, entstehen oder verschärfen sich Konflikte mit entsprechenden Folgen. War es früher vielleicht noch möglich, bei bestimmten Problemen nicht hinzusehen, ist heute Klärung und angemessener Umgang nötig, um eine positive Weiterentwicklung des gesamten Betriebs sicherzustellen.
Betriebsvereinbarungen wie diese, die Klarheit und Verhaltenssicherheit gewährleisten, sind von großer Bedeutung für ein gutes Betriebsklima, weil existierende Probleme angesprochen und angemessen bewältigt werden können. Auch in künstlerischen Betrieben wird der betrieblichen Weiterentwicklung in den Bereichen Kommunikation und Organisation zunehmend mehr Bedeutung beigemessen. Dies ist gut und richtig so, auch um Kollegen, die unter bestimmten Problemstellungen leiden, weil sie nicht angesprochen werden können, Möglichkeiten zur Initiative zu geben. Motivierte Mitarbeiter sind der beste Schutz gegen Fehlentwicklungen, auch gegen Suchtmittelmissbrauch. Dies sollten alle im Hinterkopf haben.
[1] Johannes Gostomzyk: Alkohol in Unternehmen, hg. von der Landeszentrale für Gesundheit in Bayern, dritte Auflage 2009, S. 7.
[2] Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS): Jahrbuch Sucht 2010, Pressemitteilung vom 7. April 2010, S. 2.