Pintscher, Matthias

Study II for Treatise on the Veil

for violin, viola and violoncello, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2005
erschienen in: das Orchester 02/2010 , Seite 70

Matthias Pintscher, Jahrgang 1971, ist einer der heute prominentesten Komponisten der mittleren Generation. Als Schüler von Giselher Klebe und Manfred Trojahn gewann er schon als 20-Jähriger renommierte Preise und landete mit seiner Oper Thomas Chatterton 1998 einen beachtlichen Erfolg. Abbado, Eötvös oder Rattle führten große Orchesterwerke von ihm auf, an der Pariser Bastille-Oper wurde er genauso gespielt wie in Mannheim, Cleveland oder Wien. Er selbst dirigiert auch gelegentlich oder richtet – wie in Heidelberg – kammermusikalische Festival-Studios zwischen Tradition und Moderne aus.
Pintscher ist ein Klangästhet, für den das Experiment nicht per se schon Komposition ist. In seinen vier Studies for Treatise on the Veil befasst er sich mit den klanglichen Möglichkeiten präparierter Streichinstrumente. Study II für Violine, Viola und Violoncello verlangt, zwei oder drei Saiten des Instruments mit metallenen Büroklammern abzuklemmen, was das klangliche Ergebnis nicht nur in der Tonhöhe verändert, sondern das gesamte Obertonspektrum des Instruments gleich mit.
Pintscher hält in seiner Partitur (zumindest für die Bratsche) sowohl die zu greifenden Töne als auch das klingende Resultat fest, sodass der Interpret stets kontrollieren kann, inwieweit das Hörbare mit den Vorstellungen des Komponisten übereinstimmt. Der Charakter der ca. 15-minütigen Musik, die für Betty Freeman und das Lucerne Festival geschrieben wurde, soll durchweg „schwebend, verhangen und stets irreal“ sein. Auch das Tempo muss im Ermessen der Ausführenden „latent inkonstant“ realisiert und „dem Fluss der Klänge und Farben angepasst“ werden.
Der Titel dieser insgesamt vier Studien für Duo, Trio, Soloinstrument und Quartett – die letzte Studie stammt aus dem Jahr 2008 – bezieht sich auf einen Werkzyklus des Malers Cy Twombly, dem die Kompositionen auch als Hommage zugeeignet sind. In seiner bildnerischen „Abhandlung über den Schleier“ (es gibt zwei Versionen in jeweils sehr großen Formaten und zahlreiche Skizzen dazu) folgt Twombly seinen früheren (Schul-)Tafelbildern mit kalligrafisch verschlungenen Bewegungen auf dunklem Grund. Die beiden Hauptwerke zu Veils entstanden 1968 und 1970 und beziehen sich auf eine Musique concrète, die Pierre Henry 1953 für das Ballett “Orphee 53” von Pierre Schaeffer schuf. Pintscher allerdings greift weniger dieses Moment auf als vielmehr die Anlehnung des Malers an das italienische „Velo“, einen Apparat zur Perspektivzeichnung, den Leonardo da Vinci erfunden hat.
In beiden Verbindungen ist ein Ansatz zur Deutung der Kompositionen Pintschers zu finden. „Gezogene Töne (Linien) scheinen wie die gezeichnete Linie auf einem Untergrund zusätzliche Dimensionen von Räumlichkeit zu entwickeln, werden hör-perspektivisch ausgerichtet“, teilt der Komponist einerseits mit. Das macht speziell das Trio ebenso geheimnisvoll wie nachhaltig wirksam. Ebenso aber ist seine klangliche Nähe zur Musique concrète tatsächlich nicht von der Hand zu weisen.
Matthias Roth

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