Graham Waterhouse
String Sextet op. 1
Partitur und Stimmen
Es kommt selten vor, dass sich die Entstehung einer Komposition über eine Zeitspanne von mehr als vier Jahrzehnten erstreckt und das fertige Ergebnis dann auch noch vom Wandel kompositorischer Fragestellungen über die Zeiten hinweg kündet. Das Streichsextett von Graham Waterhouse (*1962) bietet sich als Anschauungsobjekt hierfür an: Es ist – so Waterhouse in einer Werkeinführung – eine „Zeitreise“, die wechselnde Entstehungsorte und -zeiten samt den jeweils dahinterstehenden Erfahrungen und Haltungen berührt. Jeder der vier Sätze wird zu einer Art „Zeitkapsel“, in welcher der damalige Entwicklungsstand des Komponisten konserviert ist. Den Kopfsatz, ein von Brahms angeregtes „Allegro con anima“ in Sonatensatzform, schrieb der 17-Jährige 1979 für einen schulischen Wettbewerb. Im streng fugierten zweiten Satz („Adagio fanatico“) zeichnen sich die Kontrapunktstudien ab, die der Komponist 1982 während seiner Studienzeit betrieb. Das beschwingte Scherzo („Allegro vivace“) wiederum komponierte Waterhouse 1984, als er sich, angeregt durch die intimere Kenntnis von Streichsextetten und Oktetten aus dem 19. Jahrhundert, mit den reichen Möglichkeiten von Stimmführung und Stimmkombination befasste. Der Finalsatz („Moderato“) schließlich entstand erst 2012/13 auf der Grundlage einer mazedonischen Volksmelodie, was sich in einer komplexeren rhythmischen und harmonischen Disposition abzeichnet.
In der Zeit bis zur endgültigen Fertigstellung im Jahr 2023 fanden dann noch Überarbeitungen und Verfeinerungen der Partitur statt. Der Umstand, dass die einzelnen Werkteile zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, lässt sich trotz dieser Endredaktion nicht verdecken, allzu divergierend sind die stilistischen Eigenheiten der Sätze. Doch kann man dies durchaus positiv sehen und die Abfolge von spätromantisch schwelgendem Kopfsatz in d-Moll, strenger G-Dur-Fuge, perspektivenreichem F-Dur-Scherzo und folklorisierendem Finale in d-Moll als Nachzeichnung eines persönlichen Entwicklungs- und Erfahrungsprozesses sowie als Stationen einer – manchmal freilich mit Überlängen behafteten – individuellen musikalischen Reise verstehen.
Weil das Stück anspruchsvoll, aber eben nicht unüberwindlich schwer zu realisieren ist und darüber hinaus von großer Erfahrung im Umgang mit Streichinstrumenten und deren ausschließlich traditionellen Spieltechniken kündet, ist das Sextett nicht zuletzt ein dankbares Studienobjekt. Die vielfältigen Arten des Zusammenspiels, die im Finale eingeforderte rhythmische Präzision bei der Wiedergabe metrischer Vertracktheiten und die unterschiedlichen Ausdrucksdimensionen der Musik sind auf jeden Fall anregend. Und angesichts der Gesamtlänge von 30 Minuten erscheint auch die Präsentation von Einzelsätzen als durchaus passabler Zugang, um die Musik zum Klingen zu bringen.
Stefan Drees