Theodorakis, Mikis

String Quartet No. 1. The Turn / String Quartet No. 2. The Cemetery / String Quartet No. 3. Epoca Nocturna / String Quartet No. 4. Masa

jeweils Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2008
erschienen in: das Orchester 06/2009 , Seite 65

Mikis Theodorakis ist den meisten als Komponist griechischer Folklore, von Filmmusik und als Widerstandskämpfer gegen Diktatur und Unterdrückung bekannt. Weniger bekannt sind bei uns seine Opern, Kantaten und Orchesterwerke. Erst nach 2000 wurden seine Streichquartette uraufgeführt, die nun dankenswerterweise bei Schott herausgebracht wurden. Die in den Jahren 1946 bis 1958 entstandenen Werke gehören zum intimsten Bereich des Komponisten, der die Kammermusik immer als besondere Herausforderung empfand. So enthalten die vier Streichquartette Bezüge zum Leben von Theodorakis, zu Zeitumständen und zu anderen Werken des Komponisten. Diese Quartette sind Bekenntnismusik und stilistisch recht unabhängig von Trends, Moden und avantgardistischen Experimenten. Einen Vergleich mit Beethoven und Schubert brauchen sie nicht zu scheuen.
Das Streichquartett Nr. 1 The Turn bezieht sich auf eine Wende der politischen Situation (1946) und in des Komponisten Leben. Eine langsame Einleitung mit liegenden Stimmen in den beiden Violinen und chromatischem Duett zwischen Viola und Cello – mit Dämpfer pp vorgetragen – bildet den stimmungsvollen Einstieg. Der Hauptteil exponiert ein markantes rhythmisches Motiv im 3/4-Takt, das den weiteren Verlauf beherrscht. Es wird akkordisch von allen Instrumenten homofon dargeboten. Eine gewaltige dynamische Steigerung führt zum ff-Höhepunkt. Anschließend wird das punktierte Motiv ergänzt durch chromatische Achtelgänge, beginnend im Cello, später von allen im ff unisono vorgetragen. Fast spiegelartig verschwindet das Achtelmotiv und der punktierte Rhythmus bleibt übrig. Ein kurzer Epilog mit dem Einleitungsmaterial beschließt den Satz im pp mit einem verminderten Dreiklang.
Der 2. Satz nimmt die Chromatik der Einleitung auf und entwickelt sie weiter. Im Mittelteil kommen Dreiklangsmotive hinzu, die dem Satz eine elegische Stimmung verleihen und ihn bis zum Ende beherrschen. Der 3. Satz greift die Dreiklangsthematik auf, aber indirekt, indem der Komponist daraus eine ostinate Begleitfigur in Achteln für die Mittelstimmen macht. Erste Violine und Cello intonieren dazu abwechselnd eine chromatisch auf- und absteigende Kantilene. Das Werk klingt nach einem ff-Höhepunkt verhalten im pp aus. Harmonisch wird das Werk gestaltet durch Dreiklänge, Ostinati, Orgelpunkte und liegende Stimmen, eine eigenständige und originelle Tonsprache. Das Quartett geht nicht über einen mittleren Schwierigkeitsgrad hinaus.
Das Streichquartett Nr. 2 entstand 1946. Ohne Programmmusik zu sein, ist es dem Gedicht Die wahnsinnige Mutter von Solomo nachempfunden. Der Titel besagt, dass die Komposition Leiden und Tod griechischer Freiheitskämpfer ausdrückt. Eine Mehrsätzigkeit ist nur latent erkennbar, denn das Stück muss in einem Zug durchgespielt werden. Das Tempo wechselt fast durchweg alle zwei Takte, im Notentext durch Metronomzahlen subtil kenntlich gemacht. Die Extreme sind Adagio zu Anfang und am Ende, Andante in der Mitte. Die Tonalität schwankt, zu Beginn zwischen einem latenten c-Moll alternierend mit Ges-Dur. Das Stück schließt friedlich in E-Dur. Ostinati, akkordisches Klangbild und eine extreme Chromatik in Melodie, Mittelstimmen und Bass kennzeichnen die Satztechnik. Melodisch finden sich Motive aus kleinen Terzen, die ersichtlich der Volksmusik abgelauscht sind. Im Mittelteil erhebt sich eine gefühlvolle Kantilene in H-Dur (1. Violine). Zuerst begleitet nur das Cello (pizz.), später kommen die Mittelstimmen hinzu. Gewaltige Steigerungen, die wellenartig auf- und abgebaut werden, bestimmen das faszinierende Klangbild. Insgesamt ein Werk, das auch sechzig Jahre nach seiner Entstehung lebendig in unsere Gegenwart passt: ein Anreiz, es zu spielen.
Das 3. Quartett verwendet Musik aus einem anderen Werk von Theodorakis, aus dem Drama Ödipus tyrannos. Entsprechend dem 3000 Jahre alten Drama gibt sich die Musik archaisch. So verzichtet der Komponist fast völlig auf Chromatik, greift dagegen auf modale Skalen zurück. Das aus einem Satz bestehende Quartett lässt eine latente Vierteiligkeit erkennen, kenntlich durch Tempowechsel. Durch das ganze Werk ziehen sich melodische Wendungen im lydischen Modus mit der charakteristischen übermäßigen Quarte. Zu Beginn zu liegenden Stimmen und Bordunklängen, auf und absteigend in langen Notenwerten, erblüht im Mittelteil eine ergreifende Melodie auf c im lydischen Modus, gesteigert wiederholt, schließlich in voller Lautstärke auf e mit massigen Bassbordunen im Cello. Ein kleinschrittiges Triolenmotiv wird dann in allen Instrumenten verarbeitet. Im dritten Teil geschieht eine gewaltige dynamische und rhythmische Steigerung, hier auch mit Chromatik, bis zum ffff. Allmählich beruhigt sich die Bewegung. Das Werk schließt friedlich mit einem pp-F-Dur-Akkord. Dieses wunderbare Werk führt den Hörer in eine archaische Traumwelt von eigenartiger Schönheit!
Das 4. Streichquartett empfand der Komponist selbst als unvollendet, weil es nur aus einem Satz besteht. Wir empfinden das „Allegro molto agitato“ wie aus einem Guss! In allen Belangen bildet es einen starken Kontrast zu seinen Vorgängern. Geprägt wird das ganze Stück durch variable Metrik, durch ständige akkordische Doppelgriffe in allen vier Instrumenten auf engem Raum, was häufig zu clusterartigen Klangballungen führt. Im ersten Teil werden die Akkorde in Achteln exponiert. Im Kontrast dazu erklingen danach wilde Skalenmotive in Sechzehnteln, die im weiteren Verlauf mit den Akkorden auf vielfache Art kombiniert werden. Zum Schluss wirkt die Textur immer mehr zerklüftet. Aber Intensität und Dynamik halten bis zum Schluss an. Das Werk übertrifft die drei anderen durch höchste technische Ansprüche.
Insgesamt liegt hier eine Werkreihe vor, die durchaus einen Vergleich mit Bartóks Quartetten erlaubt. Allen Quartettvereinigungen kann man sie sehr empfehlen, sie bereichern das Repertoire!
Otto Junker