Brahms, Johannes
Streichsextett B-Dur op.18/Streichquintett G-Dur op. 111
Am Detmolder Fürstenhof, seiner ersten Anstellung als Musiker, hatte es Johannes Brahms in den Jahren 1857 bis 1862 gut getroffen. Von September bis Dezember sorgte er für die Musik am Hof, über die Zeit der restlichen Monate des Jahres konnte er frei verfügen und hatte dank der großzügigen Honorierung des Fürstenhofs dennoch sein Auskommen. Diese musikalisch ertragreichen Jahre bescherten die beiden Serenaden op. 11 und op. 16, und Brahms arbeitete an seinem d-Moll-Klavierkonzert op. 15. Immer wieder zog es ihn in den verpflichtungsfreien Sommern dieser Jahre nach Göttingen zu Agathe von Siebold, der Tochter eines angesehenen Göttinger Universitätsprofessors. Brahms komponierte eine Vielzahl von Liedern für sie, die eine prächtige Sopranstimme besessen haben soll, und in dieser unbeschwerten Atmosphäre entand 1859/60 auch das schwärmerisch glühende Streichsextett B-Dur op. 18.
Von dem jugendlichen Elan, der der Komposition innewohnt, spürt man in der Interpretation des erweiterten Verdi Quartetts nicht sehr viel. Die dem Kopfsatz (Allegro ma non troppo) eingeschriebene Euphorie, der ungestüme, leidenschaftliche Enthusiasmus, der hier zum Tragen kommt, erscheint in der klangsatten und dunklen Abtönung der Künstler wie ein herbstlicher Abglanz früherer Tage. Behäbig erweist sich die Temponahme, eingeebnet zeigt sich die Zeichnung der Feindynamik, geglättet die Impuls- und Akzentsetzung, gebremst die vorwärtsstrebende Triebkraft der klanglichen Bögen. Im Variationensatz (Andante, ma moderato) werden die Ausdruckscharakteristika nicht genügend voneinander geschieden, eine nach innen gerichtete diffizile Balance der Stimmenführung ist nicht das gestalterische Ziel. Man bleibt bei einem dynamischen Gleichmaß, dessen sämiger Schwergängigkeit die rechte Spannkraft fehlt. Das Scherzo hätte mehr Konturenschärfe, mehr Kanten und Ecken vertragen können, und in nivellierendem Gleichklang und risikoscheu in der Ausarbeitung der Kontraste zeigt sich auch das finale Rondo, dem sein sehnender Gestus weitgehend abhanden gekommen ist.
Auf einer ganz anderen, ungleich interessanteren gestalterischen Ebene zeigt sich die Interpretation, die das um die zweite Viola erweiterte Verdi Quartett Brahms G-Dur-Quintett op. 111 angedeihen lässt. Das mehr als dreißig Jahre nach dem B-Dur-Sextett im Sommer 1890 komponierte Werk atmet in der Darstellung derselben Interpreten hier nun all die heitere Gelassenheit, all die feinsinnige Differenzierungskunst, die man sich im Sinne eines beherzteren Zugriffs auch für das B-Dur-Sextett gewünscht hätte. Hier hat man sich weit differenzierungsfreudiger auf den Geist eingelassen, der aus den Noten spricht, hier lässt man das drängende Potenzial der melodischen Linie zu Wort kommen. Feinnervig spielt man mit der klanglichen Magie des Zwischenbereichs zwischen schemenhafter Andeutung und konkreter Fasslichkeit (Allegro non troppo, ma con brio), sensibel wird die Klanggebung austariert (Adagio), überlegt werden Struktur und Textur modelliert und aufgefächert (Un poco Allegretto), spannungsreich Kontraste ausgespielt und ein lebendiges Profil heraufbeschworen (Vivace ma non troppo presto).
Thomas Bopp