Dessau, Paul

Streichquartett Nr. 3

Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2004
erschienen in: das Orchester 02/2006 , Seite 80

Zwar bildet die enge Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht das zentrale Kapitel der kompositorischen Vita Paul Dessaus (1894-1979), dennoch maß der wohl populärste Komponist der DDR auch der „absoluten Musik“ einen hohen Stellenwert bei, wovon ein Kammermusikœuvre mit immerhin sieben Streichquartetten ein klares Zeugnis ablegt.
Dessaus Streichquartett Nr. 3 wurde als eine der ersten Arbeiten im amerikanischen Exil im Dezember 1943 begonnen, drei Jahre später beendet und verkörpert ganz besonders komprimiert eine gleichsam gattungsspezifische Verschwisterung von konstruktiver Strenge und expressiver Gestik. Das einsätzig gebliebene Werk zeigt sich nach intensiver Auseinandersetzung mit der Dodekafonie vor allem Arnold Schönberg verpflichtet, den Dessau unmittelbar nach seiner Ankunft in Los Angeles kennen lernte. Die zweite ästhetische Leitfigur, die hier namentlich heraufbeschworen wird, ist Johann Sebastian Bach. Zwei zentrale Gestalten „deutschsprachiger“ Polyfonie wenn man so will, denen Dessau in der Einarbeitung der Namensinitialen in die zwei Grundreihen des Werks unmissverständlich die Ehre erweist: Die Töne 8-12 der harmonisch deutlich tonal eingefärbten Grundreihe zitieren B–A–C–(F)–H; die ersten acht Töne der in T. 103 erstmals auftauchenden 2. Reihe die Töne A–D–Es–C–H–E–B–G.
Angesichts solcher Reverenzen nimmt es nicht wunder, dass Dessaus mit einigen Ruhezonen etwa in acht Minuten dahinfließendes Quartett (Viertel = 96) mit einer kontrapunktischen Dichte aufwartet, welche in bester Gattungsmanier die komplexe Polyfonie des 2. Quartetts noch zu übertreffen vermag, auch wenn die Reihentechnik hier nach eigenem Bekunden nicht streng konstruktiv entwickelt wird und die gesamte Faktur totalitär beherrscht, sondern stets im Dienst einer lyrisch gesinnten Melodiebildung steht. Weit ausschwingende melodische Bögen bestimmen, amabile und dolce espressivo zumeist in der 1. Violine zu finden, den ersten Abschnitt, der sich dem „glühenden Ton“ der frühen Streichquartette der 2. Wiener Schule verschrieben zu haben scheint. Mehr scherzohaft gearbeitet zeigt sich der mit Beginn der „Schönberg-Reihe“ anhebende zweite Teil mit rhythmisch schärferen Akzentuierungen, graziler Sprunghaftigkeit, aber auch rauhen Akkordballungen, bevor die Coda mit der Rekapitulation der Grundreihe in höchsten Lagen leise verlöscht.
Wesentlich moderater in Satz und Ton gibt sich das ebenfalls einsätzige und noch im amerikanischen Exil für Dessaus Nichte und Klavierschülerin geschriebene vierte Streichquartett 99 Bars for Barbara with a Viola Solo for the „new instrument“ (1948) und der scherzhaft-prophetischen Widmung „For the ,Barbara‘-Quartet“. Dennoch ist diese dreiteilige Quartett-Petitesse von rund drei Minuten Länge keine kinderleichte Gelegenheitskomposition, sondern eher ein launisches Scherzo im anspielungsfreudigen Ton „neuer Sachlichkeit“, dessen tänzerische Aufgeräumtheit rhythmisch, harmonisch und motivisch mit vielen kleinen Unebenheiten und Doppelbödigkeiten aufwartet – und einem kapriziösen Solo für die angehende Bratschistin im Mittelteil (T. 55-72).
Dirk Wieschollek