Terterjan, Awet

Streichquartett Nr. 2

Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Sikorski, Hamburg 2005
erschienen in: das Orchester 02/2006 , Seite 80

Mit der verstärkten Rezeption post-sowjetischer Musik seit den 1990er Jahren ist auch Awet Terterjan (1919-1994) vermehrt in den Blickpunkt des Westens gerückt, wenngleich ihm im modischen Diskurs einer „neuen Spiritualität“ nie die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde wie etwa Arvo Pärt oder Gija Kancheli. Durchaus zu Unrecht muss man sagen, fand der Armenier doch früh zu einer individuellen Ausdruckswelt fern der Dogmen sowjetischer Kulturpolitik, aber auch denen der westlichen Avantgarde. Ähnlich der Musik Galina Ustwolskajas oder Alexander Knaifels sprechen die Kompositionen Terterjans eine ganz eigene, auf elementare Klanggesten reduzierte Sprache, die nicht selten beinahe religiöse Erfahrungsräume aufschließt.
Basierte Terterjans erster Gattungsbeitrag, das Streichquartett C-Dur (1964) noch auf kontrastiven Themenbildungen und Rudimenten historischer Formmodelle, ist sein 1991 im Auftrag des Kronos-Quartets entstandenes Streichquartett Nr. 2 geradezu ein Extrembeispiel einer Ästhetik der Reduktion. Statische Klangbänder beherrschen weite Teile des ca. 25-minütigen Werks, dessen Grundtempo (q = 52) nur gelegentlich von kurzen Accelerandi belebt wird und dessen Minimalismus die konventionelle Zeitwahrnehmung völlig außer Kraft zu setzen droht.
Dennoch präsentiert die einsätzige Komposition eine deutlich dreiteilige Dramaturgie: Stehen-de Klangflächen im pianissimo und fahle non-vibrato/con-sordino-Farben dominieren den ersten Teil (T. 1-155), der mit einem mehrfach ansetzenden Liegeton im Violoncello beginnt wie ein Versuch, der Stille ein zaghaftes Lebenszeichen entgegenzusetzen. Die Statik der clusterartigen Harmonik wird im Verlauf durch auskomponierte Vierteltontriller dynamisiert, die in mehreren Schüben eine Verdichtung der mikrotonalen Klangfluktuation mit sich bringen, unterbrochen von langen Passagen totaler Regungslosigkeit.
Stärker rhythmisch angelegt zeigt sich der Mittelteil (T. 155-207) mit schroffer Klanggestik im fff: Eine manische Rotation kurzer, melodischer Abwärtsbewegungen in den Mittelstimmen über einem Quintbordun, sehr dissonant und latent kanonisch geführt, gespickt mit hämmernden Repetitionen, die ihren Widerhall in den gandenlosen Tonwiederholungen der 1. Violine finden. Nach markanter Generalpause in T. 209 setzt der ebenfalls ausgesprochen stationäre, dennoch deutlich zweiteilige Schlussabschnitt ein. Stehende Klangflächen aus dissonanten ppp-Akkorden wechseln mit vibrato zu spielenden C-Dur-Feldern, über denen sich gelegentlich schlichte melodische Gestalten der 1. Violine bilden. Nach ätherischen Flageolett-Passagen brechen ab T. 294 expressive Akkordschläge im ff über das meditative Klanggeschehen herein, die in umbarmherziger Vierteltonbewegung repetiert werden, bevor die Komposition gleichsam auf ihr Knochengerüst ausgebeint wird: den ostinaten kleinen Nonen-Sprung e’–es, der dem Schlussteil ab T. 281 sein geradezu rituelles Fundament verleiht und als übrig gebliebener Rest Musik am Ende in die Unhörbarkeit verlischt.
Die archaische Formelhaftigkeit der Musik Terterjans im subtilen Dialog mit der Volksmusik seiner Heimat wird hier ebenso offenkundig wie der grundsätzlich ambivalente Ton einer Klangsprache zwischen existenzieller Verzweiflung und weltentrückter Transzendenz.
Dirk Wieschollek