Arnold Schönberg
Streichquartett Nr. 2 mit Sopranstimme op. 10
Urtext, hg. von Ullrich Scheideler, Studienpartitur/Stimmenset
Noch heute, mehr als hundert Jahre nach seiner Entstehung, berauscht Arnold Schönbergs 2. Streichquartett mit jener „Luft von anderem Planeten“, die im letzten Satz des Werks hörbar wird: in den Worten des Dichters Stefan George und in Klängen, mit denen Schönberg die Tore zu einer wahrhaft neuen Musik aufstieß. Hier vollzog sich nichts Geringeres als die „Sprengung“ eines Tonsystems, das zuvor 300 Jahre Gültigkeit besessen hatte und unhinterfragbar schien. Entsprechend groß war der Skandal anlässlich der Wiener Uraufführung. Allerdings gingen Proteststurm und Lachsalven nicht vom hymnisch-ätherischen, alle Fesseln des Dur-Moll-Systems abstreifenden Finale des Quartetts aus, sondern vielmehr von seinem Scherzo: Inmitten eines Sturmgewitters aus Dissonanzen (so dürften es die Zeitgenossen empfunden haben) erklingt versteckt und doch vernehmlich das Alt-Wiener Lied vom „Lieben Augustin“ – „alles ist hin“.
Ein explosives Werk, zugleich geprägt von höchster Sensitivität. Die Vertonungen der George-Texte Litanei und Entrückung im 3. und 4. Satz gehören zu Schönbergs expressivsten Gedichtvertonungen. Und auch der in fis-Moll stehende – freilich im Post-Tristan-Sinne modulationsintensive – 1. Satz lässt bei aller Intensität kaum erahnen, was sich im Verlauf des Werks noch ereignen wird. Die Tatsache hingegen, dass Schönberg ausgerechnet für dieses Werk zum klassisch anmutenden viersätzigen Schema zurückkehrt, entbehrt nicht eines gewissen Sinns fürs Paradoxe.
Im Vorwort der Neuedition – sie umfasst Partitur und Stimmenset inklusive Klavierauszug mit Sopranstimme – erläutert Herausgeber Ullrich Scheideler die Singularität des Werks innerhalb des Schönberg’schen Schaffens und beleuchtet die komplexe Quellensituation: Schönberg hatte das Quartett zunächst im Selbstverlag herausgebracht. Noch vor dem 1. Weltkrieg wurde diese Ausgabe von der Universal Edition übernommen. Anfang der 20er Jahre erschienen revidierte Versionen von Partitur und Stimmen, doch zeigen sich zwischen diesen zahlreiche Differenzen hinsichtlich Artikulation und Dynamik. Auch eine spätere, 1937 publizierte Ausgabe konnte die Unstimmigkeiten nicht restlos klären. Zudem existiert eine zweite Reinschrift von Schönbergs Hand, die wiederum teilweise abweichende Lesarten enthält.
Scheidelers Edition stützt sich auf die Ausgabe von 1937, bezieht jedoch eine Reihe weiterer Quellen ein: beide Partiturautografe, alle Stimmen, nicht zuletzt Skizzen und fragmentarische erste Niederschriften Schönbergs. Sie erfüllt somit alle Kriterien, die an eine quellenkritische Urtextausgabe gestellt werden müssen. Zugleich enthüllt sie die erstaunliche Tatsache, dass Textprobleme, wie sie uns im Zusammenhang mit Musik früherer Jahrhunderte vertraut sind, auch im Fall eines zentralen Werks des 20. Jahrhunderts zu Tage treten können.
Gerhard Anders