Kiel, Friedrich
Streichquartett a-Moll op. 53 Nr. 1 / Walzer für Streichquartett op. 73
Die ernsteren Kunstfreunde kennen und schätzen ihn [
] als den bedeutendsten Kirchenkomponisten der Gegenwart und als den zweiten nächst Brahms von den neuesten Meistern der Kammermusik. Wo man die besten Namen nennt, da fehlt auch der seinige nicht. Der so gewürdigte Friedrich Kiel, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in herausragender Position an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin wirkte und dessen zahlreiche Chorwerke, Klaviermusik und Streicherkammermusik an prominenten Orten aufgeführt wurden, geriet nach seinem Tod 1885 bald in Vergessenheit. Umso verdienstvoller ist die Produktion des Labels Cavalli und des 1975 gegründeten Bamberger Streichquartetts (Raúl Teo Arias und Andreas Lucke, Violine, Raphael Lambacher, Viola, und Karlheinz Busch, Violoncello), zwei Kammermusikwerke von Kiel durch eine Einspielung wieder einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Kiel, der bei seinen Zeitgenossen insbesondere als Kontrapunktiker geschätzt wurde, bewegt sich in den vorliegenden beiden Werken für Streichquartett das konventionell viersätzige Werk op. 53 Nr. 1 a-Moll paart das Bamberger Streichquartett mit den Walzern op. 73 auf dem Boden der klassischen Formensprache. Mit ihrem schlanken Ton unterstreichen die Mitglieder des Bamberger Streichquartetts diese klassizistischen Elemente. Dabei werden die graziösen Melodielinien und die häufig anmutige Begleitung wunderbar herausgespielt. Dies kommt besonders dem Duktus der drei musikalisch leichteren Walzer op. 73 entgegen.
Allerdings geht diese Leichtigkeit im Streichquartett op. 53 Nr. 1 gelegentlich auf Kosten der dunkleren Seite der romantischen Tonsprache, die Kiel in seinen Streichquartetten ebenfalls kompositorisch zu nutzen verstand. Eine unkonventionellere, die reizvollen unerwarteten musikalischen Wendungen stärker in den Vordergrund rückende Spielweise hätte es dem heutigen Hörer vermutlich noch plausibler gemacht, warum Kiel von Johannes Brahms hochgeschätzt und seine Werke auch vom berühmten Joachim-Quartett interpretiert wurden. So empfinde ich beispielsweise die vorliegende Einspielung des langsamen Satzes Adagio con moto des Quartetts op. 73, der voller Spannungen und düsterer Momente ist, aber auch hochvirtuose Momente kennt, als leicht oberflächlich und in der Atmosphäre zu einheitlich.
Dennoch: Es muss nicht immer Brahms sein, wenn man sich der deutschen Instrumentalmusik der 1860er bis 80er Jahre zuwendet. Die Interpretation des Bamberger Streichquartetts ist ein Beispiel dafür, dass das Repertoire der Kammermusik des späten 19. Jahrhunderts viele zu Unrecht vergessene Schätze birgt, die es für aktive Ensembles und Hörer zu heben lohnt.
Felix Wörner