Zimmermann, Bernd Alois

Streichquartett

Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 03/2010 , Seite 67

Das hier erstmals publizierte frühe Streichquartett von Bernd Alois Zimmermann besteht aus zwei Sätzen (“Adagio molto” und “Allegro moderato”) – und schon die Reihenfolge der Sätze ist nicht sicher. Ebenso ist die Entstehungszeit nur ungefähr zu umreißen. Das Manuskript selbst ist erst in jüngsten Jahren aus verschiedenen Nachlässen wieder aufgetaucht und konnte nun im Bernd-Alois-Zimmermann-Archiv der Berliner Akademie der Künste wieder zusammengefügt werden.
Anhand der Papiersorten und des handschriftlichen Duktus ließ sich offenbar leicht erkennen, dass die Einzelteile tatsächlich zusammengehören. Man geht davon aus, dass die Satzfolge langsam – schnell die letztgültige Entscheidung des Komponisten ist. Die Datierung auf die Jahre 1944/45 ergibt sich aus einem Brief Zimmermanns an Liselotte Neufeld, in dem die Arbeit an einem Quartett erwähnt ist. “Das ist wohl die konzentrierteste Kompositionsarbeit – und die abstrakteste”, schreibt er an die Adressatin über das Werk. Die Datierung ergibt sich auch durch motivische Verwandtschaften mit dem 1944 abgeschlossenen Streichtrio und der Erstfassung des Konzerts für (Streich-)Orchester (uraufgeführt 1947).
Das Manuskript hat weitgehend Reinschriftcharakter, auch wenn einige Streichungen und Anmerkungen des Komponisten ohne korrigierende Folgen blieben. Von der erst bei den Kranichsteiner Ferienkursen 1948 durch René Leibowitz empfangenen Initialzündung der Schönberg’schen Reihentechnik ist dieses Werk noch unberührt. Stilistisch bewegt sich Zimmermann, seit 1942 wegen einer Hauterkrankung von der Wehrmacht freigestellt, in die er 1939/40 einberufen worden war, bis nach Ende des Krieges in neoklassizistischen Gewässern. Hindemith, Strawinsky und die französische Schule übten ihre Einflüsse auf den knapp 30-Jährigen aus.
Ohne Tonarten-Vorzeichnungen enden die beiden Sätze in C- bzw. E-Dur. Motivisch eng geflochten, stellt der vierstimmige Satz die Vorrangstellung der ersten Violine kaum in Frage. Vor allem das Adagio benutzt intervallische Reibungen häufig als farbliche Verschleierung der Tonalität. Im “Allegro” herrscht Hindemiths Tonfall vor. Das Cello emanzipiert sich hier zeitweise als kraftvoller Gegenpart zur Primgeige. Starke Motorik und detaillierte Artikulationsvorgaben prägen diesen Satz, der einer Art Rondoform folgt.
Die Frage, ob es sich bei diesem Werk eher um eine Studie, ein Fragment oder um eine vollgültige Arbeit handelt, lässt sich kaum mehr sicher beantworten. Es ist ein typisches Frühwerk, das auch die durchaus erschütternde “Ahnungslosigkeit” der von jeder musikalischen Entwicklung außerhalb des “Dritten Reichs” abgeschnittenen jungen Komponistengeneration jener Jahre eindrucksvoll dokumentiert. Das Hagen Quartett hat das Werk bald nach Bekanntwerden der Funde bereits im November 2008 uraufgeführt.
Matthias Roth