Saunders, Rebecca

Stirrings Still

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6694 2
erschienen in: das Orchester 09/2008 , Seite 66

Als ich die Scheibe zum ersten Mal einlegte, war ich tags zuvor von einer längeren Kuba-Reise zurückgekehrt, die Ohren noch voller Rumba, Samba und Salsa – die Insel quillt über davon. Ich wusste nicht, ob ich nur noch dies hören wollte oder am besten überhaupt nichts die nächsten Wochen. Wie aber dann die Rhythmen aus dem Kopf kriegen…
Stirrings Still öffnete mir innerhalb weniger Minuten wieder das Gehör – für Stille und subtile Klangwelten, für flutende und verebbende Farbpolyfonien, für schaurige Lust an Schallexplosionen, für In-Sich-Lauschen und -Schauen in wechselvoll einströmenden Wellen einer wahrhaftig magischen Musik. Ich war betört und auch verstört zuweilen, wurde in Anspruch genommen in des Wortes tiefstem Sinne.
Tibetische Hörner? Oder elektronisches Blechbläser-Experiment? Stimmen? Stimmungen. Man mag seinen Ohren nicht trauen, keine Hör-Erfahrung „passt“ so recht, dafür tun sich Bilder auf, weiten und vertiefen, verketten und überlagern sich, immer neue Klangfarben strömen herbei, zersplittern, verwehen. Blaauw heißt das erste Stück. Metallische Blautöne wie auf Spänen, die in stählernen, heißen Locken von einer Drehbank herabfallen, hin und her rollen, gestreckt und wieder entspannt werden auf grauem, ölig-glattem Betonboden. Aber ist er wirklich hartes Fundament oder vielmehr Klang-Flussbett? Oder nein: Raum ist er fürs Blau – und Gruft, verschlingt er es doch am Ende, würgend, verdauend, Grau wird zum Grauen.
Stirrings Still ist der letzte Titel von fünfen, die jeder ganz für sich sprechen und doch allesamt zusammen ge-hören: Messton? Misstöne? Das löst sich nicht auf, bohrt sich herein, der gesamte Schädel ist „ganz Ohr“. Wer soll das aushalten? Und warum will man das unbedingt aushalten? Wartet in Ruhepausen aufs nächste schrille Aufschrecken?
Endlich wieder eine Neue-Musik-CD-Produktion zum Hören, nicht zum Lesen. Für gewöhnlich nimmt sich der geneigte Liebhaber zunächst das Booklet vor als Leitfaden, als Notenschlüssel zum „richtigen Verständis“ zeitgenössischer Kompositionen. Im Fall von Stirrings Still rate ich von solchem Verfahren mit Inbrunst ab. Erst hören, bitte! Lesen dann aber auch unbedingt. Der fabelhaft geschriebene Text von Michael Struck-Schloen informiert über die Komponistin und die musikFabrik-Akteure und schildert die Werkgeschichten. Als erklärendes Nachwort ist er unverzichtbar – als Vorwort-Lektüre eher gefährlich. Er würde eigenen Assoziationen, Farb- und Bilderprojektionen, Erinnerungen und Fantasien Abbruch tun. Rebecca Saunders faszinierende Schöpfungen haben unvoreingenommene, pure Aufmerksamkeit verdient.
Günter Höhne