Denis, Ariel

Stille in Montparnasse

Ein Romanbericht, mit Mini-CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Atrium, Zürich 2007
erschienen in: das Orchester 06/2007 , Seite 72

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ Mit diesem Nietzsche-Satz im Kopf schlendert ein Mann durch die lauten Straßen von Paris. Er denkt an seinen verstorbenen Freund, den Schweizer Markus Berger, der seine Sängerlaufbahn aufgab, um Ingenieur zu werden; er erinnert sich an ihre tiefschürfenden Gespräche in der Brasserie L’Orfeo und er sinniert über die Bedeutung der Musik in der modernen Welt. Ariel Denis wagt in seinem Romanbericht ein ungewöhnliches Experiment: Er spiegelt die Gesellschaft in der Musik, in Tönen und Geräuschen und hat damit ein Büchlein erschaffen, das selbst so etwas wie eine Klangwolke bildet und die Lektüre zu einem inneren Hörerlebnis macht.
Vor allem im Gesang von Hermann Prey findet der Erzähler eine Insel der Schönheit inmitten eines Klangbanausentums, das sich für ihn in der Diskothekenmusik manifestiert: „Diese entsetzliche Strafe ist uns auferlegt, überall, auf der Straße, im Restaurant, im Zug, im Flugzeug, sie verfolgt uns bis auf die Toilette, das unerträgliche Zweitakt-Gehämmere des zusammengefummelten Schlagzeugs, das einen im Hotelzimmer, mitten in der Wüste oder am Meer am Lesen hindert und einen nicht schlafen lässt, und wir entkommen dem so wenig wie die Verdammten in der Hölle…“ – eben „Musik, die uns die Musik hassen lässt“. Und noch schlimmer: „Die richtige Musik beschloss sofort, unanhörbar zu werden, damit man sie nicht in Diskothekenmusik verwandeln würde. Sie brach sofort und ohne Gewissensbisse mit der sublimen tonalen Harmonie, die über Jahrhunderte zu ihrer Vollkommenheit gefunden hatte und vielleicht auch ausgeschöpft war, sie begab sich sofort und ohne Gewissensbisse in die Apokalypse der Dissonanz…“
Es ist ein Plädoyer für die Klassik, das Ariel Denis vorlegt, eine Liebeserklärung an Mozart, Bach und Schubert und an Musik, die danach verlangt, in größter Stille angehört zu werden, denn „vor allem anderen muss die Musik Stille herstellen, das ist die Wahrheit“. Von dieser Sehnsucht ausgehend spannt der Autor den Bogen zu einer nachdenklichen Gesellschaftsbetrachtung. Nicht allein um die Musik geht es ihm, sondern um die Musik als Grundlage des Menschseins, als Rechtfertigung für die eigene Existenz. In den Erinnerungen des Erzählers an seine Gespräche mit Markus Berger schwingt das Nachdenken über die eigene Vergänglichkeit mit und immer wieder finden sich eingestreute Zitate großer Philosophen wie Nietzsche oder Novalis: Ariel Denis will nicht zuletzt dem metaphysischen Aspekt der Musik auf den Grund gehen.
Dieses anspruchsvolle Vorhaben meistert er mit Bravour. Sein Romanbericht ist sowohl musiktheoretische Betrachtung als auch philosophische Reise, eine Hommage an Hermann Prey, den „größten Crooner des Jahrhunderts“, und nicht zuletzt eine bitterböse Abrechnung mit der musikalischen Moderne. Musik habe mit Engeln zu tun, meint der Erzähler, aber auch mit Dämonen: Daher wäre das Leben ohne Musik zwar ein Irrtum, aber „mit zuviel Musik wird das Leben zur Hölle“.
Irene Binal