Palézieux, Nikolaus de

Sternstunden der Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. H. Beck, München 2007
erschienen in: das Orchester 01/2008 , Seite 57

In einer seiner Buchreihen lässt der Beck-Verlag von verschiedenen Autoren „Sternstunden“ in Kunst und Wissenschaft sammeln. Jetzt liegen sie für die Musik vor. Wer von Sternstunden spricht, ruft die Gedankenverbindung zu Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit hervor. Er verstand sie als schicksalsträchtige Phasen, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum zusammengedrängt ist. „Ein einziges Ja, ein einziges Nein, ein Zufrüh und ein Zuspät macht diese Stunde unwiderruflich für hundert Geschlechter.“
Einen solch ahistorischen Geschichtsbegriff darf natürlich nur ein Literat verwenden, doch selbst der bewegt sich auf von lauter Bedeutungsschwere dünnem Untergrund. Es bleibt heute – weil niemand das schwüle Pathos ernsthaft will – also nur übrig, „Sternstunden“ als werbewirksame Verheißung einzusetzen, als die Ankündigung eines Spaziergangs auf den Gipfeln. Dieses Programm scheint intuitiv überzeugend und leicht eingängig, doch tatsächlich erfordert es vom jeweiligen Autor ein Meisterstück des kultursoziologischen Netzeknüpfens, damit beim Leser Verständnis für eine Epoche geweckt und Bedingungen eines Künstler- oder Denkerlebens wenigstens in Umrissen nachvollziehbar werden können.
Eben das gelingt in diesem Buch aber nicht. De Palézieux hat in 14 Kapiteln Komponistenporträts als historische Miniaturen angelegt, von der Renaissance (Gesualdo) bis zur Gegenwart (Ligeti). Von Musik ist in den Texten natürlich die Rede, doch sie gewinnt keine eigene Sprache. Wer es nicht schon vorher wusste, wird es nach der Lektüre auch nicht wissen: Was ist denn nun charakteristisch für Franz Schuberts Musik, was für die von Heinrich Schütz, von Georg Friedrich Händel, Hector Berlioz oder John Cage? Was man erfährt, steht auch im Musiklexikon. Ganz zu schweigen von den mittlerweile zahlreichen guten Büchern über die abendländische Musikentwicklung, beispielsweise das von Michael Heinemann.
Die Sternstunden-Perspektive erweist sich eher als Stolperstein für die Darstellung denn als ein Instrument zum Erkenntnisgewinn. Zur Anschauung des gedanklichen und sprachlichen Durcheinanders sei der Beginn des Vorworts zitiert: „Von Sternstunden wird man im Bereich der Musik erst etwa seit der Mozart-, vollends der Beethoven-Zeit im engeren Sinne sprechen dürfen. Denn erst diese Zeit hat die Entstehung eines Werks überhaupt als Ergebnis solcher Sternstunden betrachtet und sie mit Begriffen der Einzigartigkeit, der Originalität oder der Genialität ausgezeichnet. Die Geschichte zeigt auch, daß es oft zur Entstehung der nachmals als Sternstunden begriffenen Musikereignisse nicht allein des emphatischen Künstlerwunschs, sondern schlicht auch des Zufalls, einer bestimmten Konstellation von Mitstreitern bedurfte, die das Ergebnis erst möglich machte, so daß die Sternstunde aus der Rückschau heraus weniger als Teil, gar als Beginn eines vermeintlich unabänderlichen Lebensweges zu gelten hätte, denn vielmehr als der Moment, an dem das zuvor Ersonnene so weit gediehen, dazu günstige Zeitumstände eingetreten waren, daß das Ereignis überhaupt stattfinden konnte.“ Alles klar? Es rächt sich, wenn ein Konzept so wenig durchdrungen wurde wie hier.
Kirsten Lindenau