Felix Klieser
Stell dir vor, es geht nicht, und einer tut es doch
Felix Klieser ist ein Instrumentalist, der im internationalen Musikgeschäft aus allen gängigen Schemata herausfällt. Ohne Arme geboren, spielt er das Waldhorn mit den Füßen. Als gefeierter Hornist legt er ein autobiografisches Buch vor, das weit über die klassische Musikerbiografie hinausgeht. Es ist ein tief reflektierender Bericht über das Überwinden physischer Grenzen, über den langen Atem in der künstlerischen Ausbildung und über das, was Top-Musiker jenseits von Exzellenz wirklich ausmacht: innere Haltung, hohe Disziplin und kreative Lösungsintelligenz.
Was Klieser aus seinem Leben schildert, sind keine platten Heldengeschichten, sondern präzise analysierte Erfahrungen, die jedem professionellen Musiker – ob als Studierender oder als Konzertsolist – begegnen können. Seine körperliche Einschränkung ist zwar augenfällig, doch es wäre falsch, sein Buch lediglich als Motivationsliteratur im Sinne einer Selbstüberwindung zu betrachten. Er beschreibt u. a., wie Fortschritt im Musizieren eben nicht linear verläuft. Das regelmäßige Üben und Ausprobieren, so seine Erkenntnis, sei ein aktiver Dialog mit dem Körper, der Tagesform, den technischen Anforderungen und natürlich der Musik selbst. Dabei wird deutlich: Rückschläge sind integraler Bestandteil einer ernsthaften künstlerischen Entwicklung. Klieser reflektiert über Frustration, den Umgang mit Erwartung und über das stille Ringen um Kontrolle und Ausdruck. Hier liegt ein zentraler Mehrwert für Profis: eine Einladung, sich vom romantischen Ideal des „Begnadeten“ zu lösen und das eigene Können als Ergebnis bewusster, oft harter und unspektakulärer Arbeit zu begreifen.
Besonders eindrucksvoll ist seine Schilderung des kreativen Umgangs mit Begrenzungen. Was bei Klieser physisch bedingt ist, vergegenwärtigt, dass Musikalität immer auch bedeutet, mit dem Gegebenen intelligent und individuell umzugehen. Seine Praxis zeigt: Technik ist kein Dogma, sondern Werkzeug. Diese Haltung kann in der heutigen, oft perfektionistisch getriebenen Musikszene wie ein Weckruf wirken. Auch pädagogisch ist sein Buch relevant. Er fordert implizit einen Unterricht, der nicht Normen auferlegt, sondern Individualität herausfordert. Er plädiert für ein Selbstvertrauen, das sich nicht aus äußerem Lob, sondern aus innerem Wachstum speist.
Fazit: Stell dir vor, es geht nicht, und einer tut es doch ist ein Buch über Musik, über das Leben und über die Kunst, aus Einschränkungen Ausdruck zu formen. Für professionelle Musiker:innen birgt es keine einfachen Antworten, aber zahlreiche kluge Impulse – und erinnert eindrucksvoll daran, dass die größte Virtuosität oft im stillen Beharren liegt. Empfehlung: Unbedingt lesenswert – nicht trotz, sondern wegen seiner Ungewöhnlichkeit.
Gerald Mertens