Wolkow, Solomon
Stalin und Schostakowitsch
Der Diktator und der Künstler
Der sowjetische Diktator Stalin ist seit 51 Jahren tot und der Komponist Dmitrij Schostakowitsch, der seinen Peiniger 22 Jahre überlebt hat, längst ein international anerkannter Musiker. Warum also sollte man noch einmal nachlesen, was der Tyrann dem Künstler zugemutet und wie der um sein Überleben gekämpft hat?
Aus mehreren guten Gründen. Zum einen ist die Rolle Schostakowitschs bis heute schwer einzuschätzen: Hat er nun mit den Wölfen geheult er komponierte auch Staatstragendes oder sich bloß geschickt maskiert? Zum anderen ist die Frage nach dem riskanten Balanceakt zwischen Macht und Geist grundsätzlich offen, und schließlich ist es für die Nachgeborenen von Interesse, welche Disziplinierunginstrumente die Macht androht und einsetzt.
Der heute 60-jährige sowjetische Musikwissenschaftler Solomon Wolkow, der 1976 in die USA emigrierte und gegenwärtig an der Columbia Universität (New York) tätig ist, wurde 1979 weltweit als Herausgeber der Schostakowitsch-Memoiren bekannt. Deren Echtheit hat man lange bezweifelt, mittlerweile aber sind sie anerkannt.
Sein neues Buch vertieft Schostakowitschs Lebenserinnerungen insofern, als dass der Autor jetzt unter Aussparung musikalischer Werkanalysen eine kulturgeschichtliche Studie vorgelegt hat. Wolkow konzentrierte sich auf die politischen und kulturellen Bedingungen der Stalinära [
], ein Gebiet, das immer noch ungenügend erforscht ist. Dazu obduzierte er am Beispiel von Stalin und Schostakowitsch einen Sozialkörper, der aus Unterdrückung und listig-verzweifelter Gegenwehr herausgewachsen ist. Dieser hat in der russischen Tradition besondere Kennzeichen. Die religiöse und kulturelle Überlieferung erzählt nämlich, dass Zar und Gottesnarr unsichtbar, aber auch unlösbar miteinander verbunden sind. Laut Wolkow akzeptierten beide Protagonisten ihre Rollen. Stalin nahm sich Zar Nikolaus I. und sein Verhalten gegenüber Puschkin zum Vorbild, Schostakowitsch die mittelalterliche Figur des Gottesnarren; eine Art Idiot, der warnt und dem Herrscher die Wahrheit sagt.
Der Tyrann tyrannisierte mit Raffinesse, band den erfolgreichen Künstler (Puschkin dort, Schostakowitsch hier) mal für die Interessen seines Landes ein und demütigte ihn umgehend, wenn er zu stark oder zu einflussreich wurde. Der seinerseits wusste nie, woran er gerade war und hasste infolge dieses Wechselbades nicht nur den Unterdrücker, sondern auch sich selbst. Die Masken des Künstlers, die der Marxist Schostakowitsch namentlich seit 1936, dem Erscheinungsjahr des berüchtigten Aufsatzes Chaos statt Musik zum Überleben gefunden hat, treten allesamt in Puschkins Stück und in Mussorgskijs Oper Boris Godunow als handelnde Personen in Aktion: der Gottesnarr (Warner), der Chronist (Historiker) und der Prätendent (der für die eigenen Interessen Handelnde).
Wolkow bringt dem Leser einen Künstler nahe, der außerordentlich stark zum sympathein zum Mitleiden fähig war. Das Mitleiden und die nackte Angst um sich selbst und seine Familie brachten Schostakowitsch mehrmals an den Rand des Selbstmords. Ihm gegenüber stand der atavistische Tyrann als vollkommen unberechenbarer Egomane: Ideologie, künstlerische Inhalte und Verhalten der Opfer unterwürfig oder mutig waren zweitrangig. Dass die Stalinära alle Beteiligten, sowohl Täter als auch Opfer, nachhaltig zu menschlichen Krüppeln gemacht hat, ließ sich noch lange nach Stalins Tod erkennen. Ein leicht zu lesendes Buch, das reich dokumentiert, wie langsam die Vergangenheit vergeht.
Kirsten Lindenau