Horst Lohse
Spiritual Variations
für Streicher, Partitur
Auf seiner Internetseite bezeichnet sich Horst Lohse (geb. 1943) als „universalen Komponisten“, dessen Schaffen „so gut wie alle musikalischen Genres: von kammermusikalischer Reflexion bis zur orchestralen Klang-Tiefenbohrung, von Vokalwerken mit bestechend präziser Textausdeutung bis zu experimentierfreudigen Tanz- und Musiktheaterformaten“ umfasst.
Dies schließt auch Stücke wie die vorliegenden Spiritual Variations ein, die sich durchaus für ambitionierte Jugendorchester oder Laienensembles eignen und die Ausführenden aufgrund vieler Gestaltungsspielräume mit einer ganzen Reihe von dankbaren Aufgaben konfrontieren. Das rund 15-minütige Werk aus dem Jahr 1967, revidiert und ergänzt 2021, ist lapidar mit der Besetzungsangabe „für Streicher“ versehen. Es handelt sich um eine Variationsfolge über das Spiritual Weepin’ Mary, gesetzt für fünfstimmiges Streichorchester, in dem Violinen, Violen und Violoncelli gelegentlich auch zweigeteilt auftreten. Eine Aufführung mit solistischer Streicherbesetzung ist gleichfalls möglich, erfordert aber mindestens ein Nonett.
Den Konventionen der Gattung Variationsform gemäß lässt Lohse dem Spiritual-Thema sechs attacca aufeinander folgende Variationen unterschiedlichen Charakters sowie eine abschließende Fuge folgen, die am Ende in eine feierliche, klanglich veränderte und verkürzte Reprise des Themas mündet. Der tonale, mitunter durch harmonische Überlagerungen angereicherte Satz nimmt durch seine sorgfältige dynamische Ausgestaltung für sich ein. Dies zeigt sich bereits zu Beginn der Komposition, wenn Lohse im Anschluss an vier Eingangstakte das Thema präsentiert und jeden melodischen Abschnitt – durch Setzung von Fermaten unterstrichen – mit einem genau formulierten dynamischen Profil vortragen lässt.
Gemäß der Verbindung des Spiritualtexts zu Johannes 20:11 („Maria aber stund vor dem Grabe und weinete draußen. Als sie nun weinete, guckte sie in das Grab.“) liegt den Variationen ausschließlich die Auseinandersetzung mit den Gefühlsregungen Trauer, Klage und Trost zugrunde. Aufgrund der gewählten Anordnung von Tempo und Charakter schafft Lohse eine Art narrativen Faden, der sich auf die Bibelstelle beziehen lässt: Während Variation 1 („Like a funeral march“) mit Elementen des Trauermarschs den Akt der Grablegung Christi heraufbeschwört, nimmt Variation 2 („Groaning“) im auskomponierten Gegeneinander von solistisch besetzten Stimmen und Tutti-Einsatz der Streicher den Moment überwältigender Klage in den Blick.
Variationen 3 („Firmly“), 4 („Restless“), 5 („Rushing“) und 6 („Calming“) umschreiben wiederum eine Abfolge innerer Zustände, zu deren Herausarbeitung Lohse auch klangliche Mittel wie Tremolo am Steg einsetzt. Aus der Situation der Beruhigung erwächst schließlich als „Conclusion“ eine Fuge über die beiden ersten Abschnitte des Spirituals, bevor das Stück durch eine im Tonraum gegenüber dem Beginn nach oben versetzte und dynamisch im Mezzoforte belassene Reprise das Stück beschließt.
Stefan Drees