Tōru Takemitsu

Spectral Canticle / To the edge of dream/Vers, l’arc-en-ciel, Palma/ Twill by twilight

Jakob Kellermann (Gitarre), Viviane Hagner (Violine), Juliana Koch (Oboe d’amore), BBC Philharmonic, Ltg. Christian Karlsen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BIS Records BIS
erschienen in: das Orchester 01/2024 , Seite 69

Um Tōru Takemitsu und um den überwiegenden Teil seiner Musik ist es seit den 80er Jahren in den Konzertsälen still geworden. Und ich bilde mir ein, lange, sehr lange schon kein Konzertprogramm mehr wahrgenommen zu haben, in dem der Name ­Tōru Takemitsu fiel.
Um so erstaunlicher, dass das Label BIS es wagt, in dieses Vakuum hineinzustoßen. Denn, in der Tat, die hier vorgestellten Musiken dieses vielseitigen Japaners wirken heute leicht angestaubt, wie Kompositionen „von gestern“, die kaum noch einen Publikumspreis einzuheimsen vermögen. Aber hinter derlei Herausgaben müssen ja nicht immer nur rein utilitaristische Motive stehen – es kann ja auch sein, dass man den Komponisten einfach nur ehren oder in Erinnerung bringen möchte.
Es handelt sich um Ersteinspielungen sowohl früherer als auch späterer Werke des 1996 verstorbenen Takemitsu, darunter eben das titelgebende Werk der CD Spectral Canticle, das er nur ein Jahr vor seinem Tod komponiert hat. „Der Titel“, so das Beiheft, „ist […] eine Anspielung auf Emily Dickinsons Gedicht Further in Summer than the Birds,“ die, vor allem in der Gitarrenstimme, „die unaufdringliche Messe zirpender Zikaden“ nachempfinden soll.
Mit To the edge of dream empfindet Takemitsu die Gemälde des belgischen surrealistischen Malers Paul Devaux nach. Auch das darauf folgende Werk, Vers, l’arc-en-ciel, Palma, nimmt Bezug auf ein Werk der Malerei, in diesem Falle eines des Farbenzauberers Joan Miró, das zu Beginn der 1940er Jahre in Palma de Mallorca geschaffen wurde.
Das 1988 entstandene Twill by twilight („twill“ – Weben von Stoffen und „twilight“ – Stunde der Dämmerung, „in der man der Toten gedenkt“) ist dem 1987 verstorbenen Komponistenkollegen Morton Feldman dediziert, womit Takemitsu die von ihm bewunderte Lebensleistung Feldmans anzuerkennen sich befleißigt.
Was alle vier Werke gemeinsam haben: Sie wirken auf den Hörer ruhig, meditativ, kontemplativ und – ein bisschen ermüdend. Man könnte sie als Vorstufe zur (durchaus nicht immer Müdigkeit erzeugenden) minimal music eines Feldman, Steve Reich, Philip Glass, Michael Nyman und anderer ansehen.
Die Interpret:innen musizieren brav bis hervorragend, ihnen sind ermüdende Deutungen am wenigsten anzulasten. Der Beiheft-Text aus der Feder des namhaften englischen Musikwissenschaftlers Arnold Whittall ist außerordentlich informativ und hilft gewiss auch musikalischen Laien, sich in diese – wie sagt man? – „vor-postmoderne“ Musik einzuhören.
Friedemann Kluge