Graeme Lawson

Sound Tracks

Auf den Spuren unserer musikalischen Vergangenheit

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Piper Verlag
erschienen in: das Orchester 10/2025 , Seite 70

Eigentlich wäre durchweg Demut zu verlangen, wenn die „junge“ Politik über „Kultur-Einsparungen“ schwadroniert – denn Kunst und Kultur haben keinen Rechtfertigungsdruck. Deutschen Regierungen mit ihren paar Jahrzehnten steht das älteste Kulturzeugnis gegenüber: die kleine Knochenflöte aus der schwäbischen Höhle – ca. 35000 Jahre alt! Also eigentlich ehrfurchtgebietend – und damit alles Spar-Gerede in Schranken verweisend!
Ganz ähnlich gestimmt hat Musikologe Graeme Lawson aus Cambridge sein Forscherleben zugebracht: alte Zeugnisse für menschliches Musizieren zu suchen – und zu staunen. Seine Klang- und Musiziergeschichte wirkt wie eine „Fund-Aktenzeichen XY“-Sendung und liest sich erfreulicher- wie unterhaltsamerweise auch so: Grabungen, Entdeckungen und Restaurierungen wie kleine Abenteuererzählungen, oft spannend und überraschend. Etwa: Da explodiert 1627 die Munitionskammer der schwedischen „Kronan“; von 1800 Mann überleben nur 42. 1982 finden Taucher neben den Kanonen eine kleine Kiste mit einer kompletten Citer, einer schon modulationsfähigen Barockgeigenart – fabelhaft erhalten, weil die Ostsee mit nur sechs Promille extrem salzarm ist und ihre Kühle Holzfresser fernhält.
Derartige Musizier-Funde führt Lawson seinen Lesern über 400 Seiten vor. Zu entdecken gibt es vielfältige Instrumente in entfernten und entlegenen Orten. Durch Kapitel über einzelne Jahrhunderte geht die Zeitreise dann übers Eisen- und Bronzezeitalter an die Anfänge der Zivilisation. Vorläufig endet die Musizierreise etwa 38000 Jahre v.u.Z. im prähistorischen Zeitalter Aurignacien – bei Knochenflöten und Maultrommeln, auf der Schwäbischen Alb und in den Höhlen des baskischen Isturitz. Frappierend zu lesen ist, wie auch Bruchstücke mitunter unglaublich aussagekräftig sind und oft – weit auseinanderliegend gefunden – zusammenpassen. Kult, Religion und gemeinsames Musizieren bezieht Lawson mit ein. Dank modernster Untersuchungsmethoden sowie häufiger Nachbauten gibt es aktuelle Musizierversuche, auch von Lawson selbst.
Gefühlvoll humangeschichtlich endet Lawsons lebendiges Erzählen: Auch die sehr rhythmischen Fußabdrücke einer Australopithecus-Mutter mit Kind könnten auf singendes Gehen im Lehm vor ca. 3,5 Millionen Jahren deuten – und im Kontrast fragt er, was wohl die Musikbeispiele in den seit 1977 dahinfliegenden NASA-Raumschiffen Voyager 1 und 2 anderen interstellaren Kulturen über uns sagen könnten…
Eine in beide Zeitrichtungen offene Musiziergeschichte tut sich auf – für letztlich jeden Musikfreund unbekannt klingende Horizonte auch durch 37 Fotos eröffnend. Eine Bereicherung.
Wolf-Dieter Peter

 

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support