Turcotte, Anne-Marie

Sonatina

für Klarinette in B und Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2012
erschienen in: das Orchester 09/2013 , Seite 76

Die 1962 in Italien geborene Komponistin Anne-Marie Turcotte hat ihre Sonatina für Klarinette und Klavier im Auftrag eines Klarinettenlehrers komponiert. Sie selbst bezeichnet das knapp zehnminütige Stück als eine didaktische Komposition. Die Tonsprache und die formale Gestaltung ist der gemäßigten Moderne zuzurechnen, und so konnte sie dafür den 1. Preis beim Harald Genzmer Kompositionswettbewerb 2010 erhalten, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, in der Auseinandersetzung mit dem musikalischen Schaffen von Harald Genzmer neue Werke auszuzeichnen, die auch für den Wettbewerb „Jugend musiziert“ geeignet sind.
Der Kopfsatz beginnt mit einer Klavier-Introduktion, in der sich das Tonmaterial einer Zwölftonreihe entfaltet, die für die Sonatina bestimmend ist. Aus ihr wird zunächst ein lyrischer Gedanke in der Klarinette gebildet, der bald mit einer Scherzando-Phrase konkurriert. In diesem Satz zeigt sich im Melodischen eine Vorliebe für immer wiederkehrende Doppelschlagfiguren. Das Menuetto al rovescio (= Umkehrung) schließt sich unmittelbar an und unterscheidet sich durch seine rhythmische Lebhaftigkeit wirkungsvoll vom ersten Satz. Im Trio des Menuetts wird im Klavier die Harmonik von bitonalen Akkorden bestimmt, über denen sich in großen Sprüngen die Klarinette mit der Zwölftonreihe erhebt, plötzlich unterbrochen von flirrenden Klavierklängen, zu denen eine chromatische Flatterzungenpassage im Pianissimo hinzutritt. Nach der Wiederaufnahme des Menuetts dominiert im letzten Teil mit einem kurzen, im Klavier erklingenden Choral, der von Arpeggien der Klarinette umspielt wird, zunächst die Tonalität, die dann wieder aufgelockert wird. In dem Cadenzando überschriebenen Schlussabschnitt, in dem sich die Zwölftonreihe sozusagen verflüchtigt, wird die Sonatina formal offenbleibend beendet.
Die spieltechnischen Anforderungen an den Solopart erreichen Oberstufenniveau und verlangen eine sichere Höhe (Spitzenton a”’), die besonders im Menuett mit vielen Vorschlagsnoten in der höchsten Lage das Klangbild bestimmt. Der Klavierspieler, der bereits mit dem Notenbild von modernen Stücken vertraut sein sollte, ist als mitgestaltender gleichberechtigter Partner gefordert.
Mit dieser retrospektiven, formal und inhaltlich uneinheitlichen Sonatina zeigt Anne-Marie Turcotte, dass sie das kompositorische Handwerk versteht; aber es ist nicht die typische Handschrift der Komponistin, die über ein breiteres und differenzierteres Klangspektrum verfügt. Dies sollte zur „Ehrenrettung“ der Komponistin erwähnt werden, denn auch die Auszeichnung mit einem Preis täuscht nicht darüber hinweg, dass diese Komposition kaum eine echte Repertoire- bzw. Marktlücke füllt.
Heribert Haase