Ysaye, Eugène

Sonate pour deux violons seuls

op. posthume, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ries & Erler, Berlin 2004
erschienen in: das Orchester 12/2004 , Seite 85

In Fachkreisen weiß man, dass es sie gibt, aber kaum jemand kennt sie, die Sonate für zwei Violinen des großen belgischen Geigers und Komponisten Eugène Ysaÿe. 1964 spielten Leonid Kogan und Jelisaveta Gilels sie grandios auf Platte ein. Trotzdem konnte sich das Stück bis heute nicht durchsetzen. Jetzt hat Ries & Erler das 1915 geschriebene Werk, das bisher nur als Faksimile-Ausgabe der Partitur bei Schott Frères greifbar war, erstmalig (!) als Normaldruck herausgegeben. Widmungsträgerin ist die belgische Königin Elisabeth, die selbst Geige spielte und gelegentlich bei Hausmusikabenden zusammen mit Maître Ysaÿe und anderen erlesenen Instrumentalisten Kammermusik zu Gehör brachte. Mir ist nicht bekannt, ob Ihre Königliche Hoheit die Sonate selbst gespielt hat. Allerdings müsste sie dann angesichts der erheblichen Schwierigkeiten über hoch virtuose Qualitäten verfügt haben.
Das ausgewachsene dreisätzige Werk verlangt, wie bei Ysaÿe kaum anders zu erwarten, in den beiden absolut gleichwertigen Soloparts den Interpreten einiges ab, ist gespickt mit Doppelgriff- und Akkordpassagen jedweder Art, simultanen Staccato-Läufen, Ricochet-Arpeggien usw. Den Schwierigkeitsgrad der Solosonaten erreicht es gleichwohl nicht ganz, und für versierte Profis dürften sich bei sorgfältiger Vorbereitung keine unüberwindlichen Hindernisse ergeben. Ysaÿe war sich des virtuosen Anspruchs durchaus bewusst. Er hat die Komposition zur leichteren Spielbarkeit 1916 zu einem Trio für zwei Violinen und Viola umgearbeitet.
Die Beschäftigung mit der Sonate lohnt sich unbedingt. Erstaunt, ja fassungslos fragt man sich, warum diese inspirierte, harmonisch prachtvolle und reiche, zwischen Bach-Adaption, schwärmerischer Klangextase à la Chausson, „Regerismen“ und brillantem romantischen Virtuosentum angesiedelte Musik noch heute ein derartiges Mauerblümchen-Dasein fristet. Vielleicht weil sie zum Zeitpunkt der posthumen Erstveröffentlichung als spätromantischer Anachronismus so gar nicht in die neue musikalische Landschaft passte? Angesichts der Dünne des Repertoires für diese Besetzung – nach Spohr und Bériot lange praktisch nichts, dann Bartók, Honegger, Prokofieff, Takemitsu, Berio u. a. – kann die Bedeutung der Komposition und damit auch dieser Neuausgabe kaum hoch genug eingeschätzt werden. Ich bin sicher, dass wir das Werk bald öfter hören werden.
Die sorgfältige Edition genügt in Partitur und Soloparts bis auf zwei Einwände hohen Ansprüchen. Zunächst wäre zwecks besserer Lesbarkeit der Solostimmen ein größerer Druck wünschenswert, denn gerade im letzten Satz wird so das bloße Entziffern zur etwas mühseligen Angelegenheit. Des Weiteren bleibt das Problem der Wendestellen ungelöst. Wer nicht auswendig spielen will, wird sich etwas einfallen lassen müssen. Gegen den Druckfehlerteufel ist bekanntlich kein Verlag gefeit. So sind u. a. im Solopart der 1. Violine im 3. Satz die Schluss-Flageoletts eine Terz nach oben verrutscht.
Herwig Zack

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