Pisendel, Georg Johann

Sonate in e-Moll

für Violine solo und Cembalo

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Carus, Stuttgart 2003
erschienen in: das Orchester 09/2005 , Seite 85

Georg Pisendel zählte zu den bedeutendsten deutschen Geigern der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er war Konzertmeister in der Dresdner Hofkapelle. Als Komponist pflegte er den so genannten „vermischten Geschmack“, in dem neben deutschen vor allem auch italienische Einflüsse eine wichtige Rolle spielten. Bei seinen Reisen nach Frankreich und Italien lernte Pisendel die damals führenden europäischen Musiker kennen. Sein Geigenspiel beeindruckte Vivaldi und Albinoni so sehr, dass sie ihm Werke widmeten.
Um die Kunst des Geigens in der Bach-Zeit kennen zu lernen, sind die nicht allzu zahlreich erhaltenen Kompositionen Pisendels eine wichtige Quelle. Die Barockgeigerin Martina Graulich veröffentlichte die Erstausgaben der Sonaten in e und in D für Violine solo und Cembalo. Streng hält sie sich an den Urtext, fügt keinerlei Artikulationshilfen oder Stricharten ein, schreibt allerdings den Generalbass aus, der von Pisendel – wie damals üblich – nur als eine Bassstimme notiert wurde. Diese puristische, ganz auf den Urtext konzentrierte Ausgabe erfordert Musiker, die Kenntnisse in historischer Aufführungspraxis haben. Das mag den Interessentenkreis für diese Ausgaben etwas einschränken, aber andererseits ist dies der einzige Weg, um sich mit dieser Musik adäquat auseinander zu setzen. Das Notenbild zeigt die Freiheit des Interpreten – freilich in Kenntnis damaliger Musizierpraxis. Der Carus-Verlag gab sich viel Mühe, ein gut lesbares Notenbild zu gestalten und richtete den Seitenumbruch so ein, dass ein unkompliziertes Umblättern möglich ist. Eine äußerst seltene Rücksicht auf die Spielpraxis!
Pisendels Violinsonaten sind hoch virtuos. Dies gilt besonders für die Sonate in D, deren Ecksätze aus einem Violinkonzert des Komponisten stammen. Pisendels Kunst als Geiger bestand insbesondere in der Diminution auf sehr kleine und dennoch genau zu spielende rhythmische Werte wie zum Beispiel Zweiunddreißigsteltriolen. Dies erfordert eine griffsichere und schnelle linke Hand und eine sehr flexible Bogenführung, was durch die Verwendung eines Barockbogens wesentlich erleichtert wird. In den schnellen Ecksätzen ist auf der E-Saite hohes Lagenspiel gefordert mit zum Teil recht kniffligen Fingersätzen. Der Klavierpart beschränkt sich auf den Generalbass und führt in bisweilen sehr entfernte Akkordregionen. Diese Verbindung einer stupenden Virtuosität in der Violine mit einer ausdrucksintensiven Harmonik, die tonale Grenzbereiche ausschreitet, prägt den besonderen Charakter von Pisendels Violinsonaten.
Während die D-Dur-Sonate vor allem einen Einblick in die geigerische Virtuosität Pisendels gewährt, stellt die Sonate in e die musikalische Gestaltungskunst in den Vordergrund. Auf ein sehr melancholisches Largo folgt ein Moderato, das vor allem die Kunst des „sprechenden Spiels“ erfordert und in dem die Dynamik eine wichtige Rolle spielt. Ein besonderes Kabinettstück musikalischer Charakterisierungskunst stellt aber der letzte Satz Scherzando dar. Hier hat der Komponist die Echowirkung zwischen Forte und Piano zur witzigen Grundidee seiner Komposition gemacht.
Pisendels Sonaten waren im 18. Jahrhundert Virtuosenmusik und sind es heute noch. Sie dienten dazu, das Publikum durch stupende Technik und durch eine musikalische Gestaltung, die mit Witz unterhält und mit Leidenschaft fesselt, in Erstaunen zu versetzen. Auch heute ist diese Musik für den Konzertsaal bestens geeignet, allerdings nur, wenn eine intensive Beschäftigung mit der Aufführungspraxis des 18. Jahrhunderts vorausgeht. Dafür sind die beiden Ausgaben von Martina Graulich ein hervorragender Ausgangspunkt. Für Studium und Konzert sind sie uneingeschränkt zu empfehlen.
Franzpeter Messmer

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