Schnittke, Alfred
Sonate 1955
für Violine und Klavier
Ein neues Werk, eines von Schubert, Debussy, Mendelssohn oder Ravel
Ich bin sicher, jeder Musiker kennt das elektrisierende Gefühl, das ihn beim Lesen solcher Nachricht überkommt. In der Regel handelt es sich bei derartigen neuen Werken um in Bibliotheken oder privaten Nachlässen aufgestöberte Manuskripte aus der Jugendzeit der jeweiligen Komponisten. Ein Klavierquartett von Mahler, Klaviertrios von Debussy und Rachmaninow, Sonaten von Ravel, Bartók und Turina und vieles von Mendelssohn haben wir so kennen gelernt. Echte Perlen sind darunter, etwa die durchorchestrierte Fassung des Doppelkonzerts für Violine und Klavier von Mendelssohn oder die postumen Violinsonaten von Bartók (1903) und Ravel (1897). Anderes dokumentiert vor allem die Zwischenstadien der stilistisch-musikalischen Entwicklung des jeweiligen Komponisten auf dem Weg zur Selbstfindung und Reife.
Nun liegt also eine frühe Violinsonate des 20-jährigen Schnittke vor, enstanden noch am Beginn seiner Moskauer Studienzeit. Verblüfft registriert man bei der Durchsicht der Partitur, welch ungeheuer weiten Weg Schnittke in den folgenden Jahren bis etwa zur Komposition der genialen 1. Violinsonate im Jahr 1963 zurückgelegt hat. Diese Jugendsonate hat mit dem späteren Werk außer der Besetzung so gut wie nichts gemein. Sie zeigt den jungen Komponisten als lyrischen Spätromantiker und Postimpressionisten unter dem Einfluss von Ravel, Glière, Delius, gelegentlich Mahler und Schostakowitsch. Einiges klingt nach frühem Hindemith. Die Tonsprache ist derart komplett und solide in der Tonalität verwurzelt, dass manches von Ravel (Duo für Violine und Violoncello), Prokofjew oder Schostakowitsch im Vergleich geradezu avantgardistisch anmutet, die rhythmische Prägnanz der 1. Sonate fehlt völlig, von der späteren Collage- und Zitatentechnik Schnittkes ist noch nichts zu spüren.
Angesichts des Entstehungsjahres 1955 ist dieses Werk also ein totaler Anachronismus, aber ein ansprechend-liebenswürdiger. Charme und Poesie kann man dem offenkundig hochbegabten jungen Komponisten nicht absprechen. Und versteckt macht man dann doch Charakteristika des späteren Schnittke aus: die mahlerischen Dur-Moll-Wechsel am Ende des 2. Satzes, die er in kommenden Jahren collageartig und verfremdet einsetzen wird (3. Violinkonzert, Streichtrio), oder die an barocke Tanzsätze (Menuett, Gavotte) erinnernde, hier ein wenig im Klanggewand von Ravels Tombeau de Couperin daherkommende Thematik desselben Satzes. So gesehen führt doch ein gerader Weg zur Suite im alten Stil einerseits und dem 1. Concerto grosso andererseits. Edition und Druck der Neuausgabe sind tadellos.
Herwig Zack