Cage, John

Sonatas & Interludes

Tim Ovens (Klavier)

Rubrik: CD-ROMs
Verlag/Label: Cordaria Multimedia CD-Rom, CACD 566
erschienen in: das Orchester 07-08/2003 , Seite 89

Wenn es bei den legendären Happenings des amerikanischen Avantgarde-Komponisten und Musik-Philosophen John Cage (1912-1992) auch gelegentlich chaotisch zuging, wenn die nach Zufallsprinzipien hervorgebrachten Klänge seiner Musik (die nach seinen eigenen Worten „nicht Musik genannt werden“ musste) auch dem Publikum oft krude und gewöhnungsbedürftig vorkamen, so änderte dies nichts daran, dass der sanfte Revoluzzer die schönen Dinge liebte. Der hier schreibende Rezensent, eingestandenermaßen ein John-Cage-Fan, wurde Zeuge davon, als er sich dem Komponisten näherte mit der Bitte, ein Schallplattenalbum zu signieren. Bevor Cage dies bereitwillig und sorgfältig tat, betrachtete er die Hülle der Etudes Australes in der Interpretation von Grete Sultan mit einer Cover-Grafik (übrigens seiner eigenen) wohlgefällig und sagte: „Oh, it’s beautiful, isn’t it!“ Ihm hätte gewiss auch das Design der vorliegenden Doppel-CD mit dem Foto der Statuette einer indischen Gottheit auf dem Umschlag gefallen und ebenso wohl – der er immer aufgeschlossen war – die Veröffentlichung der multimedialen CD-ROM begrüßt. Aber hätte er ihr kraft ihrer Einladung zur Interaktion am Computer auch den Status eines Happenings zugestanden? Wir wissen es nicht.
Doch immerhin wird der Betrachter und Hörer der vier Link-Kapitel dieser CD-ROM aktiviert: Er kann – nachdem er im ersten Link Einblick in „Die Gedankenwelt von John Cage“ genommen und Biografisches sowie ein Werkverzeichnis gelesen hat – unter dem in Cages Handschrift gebotenen Motto „eine schwarze Rose, die den Eindruck des Schlafens und des Erwachens vermittelt“ an einem Bild die betreffende Blüte per Mausklick in Drehbewegung versetzen. Es geht hier (nach einem Kapitel über den deutschen Pianisten Tim Ovens als Interpreten der zugehörigen Musik-CD) speziell um Cages zwischen 1946 und 1948, also in einer relativ frühen Phase, geschaffene Sonatas & Interludes für präpariertes Klavier.
Wesentlich interessanter als das Rosen-Spiel ist das Angebot des vierten Links, in dem die Methode demonstriert und verbal erläutert wird, mit welcher der Komponist durch Einklemmen von Schrauben, Muttern, Radiergummis und dergleichen in
den Saitenrahmen eines Klaviers
dessen Klang für die Interpretation seiner Musik verändert hat. Dass der CD-ROM-Gast selbst an den Schrauben drehen darf, gehört bei dem unter der Leitung von Tim Ovens realisierten Projekt (in einem fünften Zusatz-Link als Impressum wird das
große Produktionsteam benannt) eher in den Bereich der Spiele-rei.
Bei kaum einem anderen Komponisten der Avantgarde ergeben sich wohl so vielschichtige Antworten auf die Frage nach der – sinnvollen, authentischen, „richtigen“ – Interpretation wie bei John Cage. Der Einbezug des Zufalls, der Happening-Ansatz, der direkte Einfluss sozusagen von Zeit und Ort der Handlung, diese Faktoren lassen so vieles offen. Allerdings waren die frühen Kompositionen, zu denen man auch noch die Sonatas & Interludes zählen kann, gegenüber den späteren noch relativ fest umrissen, um nicht zu sagen „konventionell“.
Von daher ist es interessant, etwa Tim Ovens Aufnahme der 16 Sonaten und vier Zwischenspiele mit denen eines anderen Pianisten zu vergleichen – in diesem Fall ist es Boris Berman (Naxos 8.554345) – und überraschende Feststellungen zu machen: Es kann tatsächlich von „Interpretationen“ gesprochen werden. Dies bedeutet, dass einerseits – wie bei Werken der Tradition – deutliche Parallelen oder Übereinstimmungen bestehen, andererseits die Subjektivität und Individualität des Spielers erfahrbar ist. Vielleicht ließe sich Tim Ovens’ Spiel auf der hier besprochenen CD als überraschend klangorientiert, ja klangsinnlich, beinahe als „pianistisch“ bezeichnen (im Kontrast zu Bermans eher spröderem, perkussiverem Angang). Auf jeden Fall sind die Sonatas & Interludes reizvolle, beinahe eingängige Musik. Dieser CD-Doppelpack erweist sich also (gleichsam gemäß einem hinzu zu erfindenden Titel „John Cage for beginners“) als ein tauglicher Einführungskurs in die Welt des auch nach seinem Tod noch weiterwirkenden liebenswerten Provokateurs.
 
Günter Buhles