Becker, Holmer

Sonata für Violoncello solo

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Brendel, Berg 2004
erschienen in: das Orchester 03/2005

Seit Bernd Alois Zimmermann vor einem halben Jahrhundert das Violoncello für sich entdeckte und der Cellist Siegfried Palm Zimmermanns Vision einer instrumentalen Vox Humana wie auch dessen diabolische Experimentierfreudigkeit kongenial umzusetzen begann, erlebte die Sololiteratur für Cello einen wahren Boom. Alle bekannten Komponisten dieser Jahre schrieben – zumeist horrend Schwieriges – für jenes Instrument, das bis dato im Ruf gestanden hatte, ein wenig schwerfällig, wenngleich zu herrlicher Kantilene fähig zu sein und das man nun als behändes, vielseitiges „Sprachrohr“ neuer Musik kennen lernte.
Die vorliegende Solosonate von Holmer Becker lässt sich zwar in die Chronologie dieser Gattungstradition einordnen, markiert jedoch in ihrer kompositorischen Faktur einen Punkt, der von ungestümer Avantgarde denkbar weit entfernt liegt. Kaum ein Indiz des Notentextes ließe darauf schließen, dass es sich um ein Werk unserer Zeit handelt. Zur Frage: „Wer ist Holmer Becker?“ – handelt es sich doch nicht um einen marktbeherrschenden Namen der neuen Musik – finden wir den knappen Vermerk, der 1955 in Fürth Geborene habe bei Gottfried Müller studiert und den Talentpreis des Fürther Theatervereins erhalten.
Näher kommt man Becker möglicherweise auf dem Umweg über seinen Lehrer, wobei aufschlussreich ist, dass die 2002 gegründete Edition Brendel bisher ausschließlich Werke von Müller und Becker publiziert hat. Der gebürtige Dresdner Gottfried Müller (1914-1993) lehrte viele Jahre an der Nürnberger Musikakademie. Sein Credo lautete: „Die Musik ist heilig, wenn wir sie als eine mythische und ethische Wirklichkeit erfahren.“ An anderer Stelle spricht er vom „Bogen des Bejahens“, den sie über den „Abgrund des Unvereinbaren“ spanne.
Auf ähnlich zeitloser Grundlage scheint die Musik seines Schülers zu stehen, denn aus Beckers dreisätziger, übersichtlich gebauter, auf instrumentale Effekthascherei und Akrobatik gänzlich verzichtender Cellosonate spricht offenbar die Überzeugung, auch nach Zimmermann, Stockhausen und Rihm gleichsam in einem „Bogen des Bejahens“ auf Strukturmodelle der Musik vergangener Zeiten zurückgreifen zu können, ohne diese als Zitate kenntlich zu machen. In Beckers Tonsprache sind Zentral- bzw. Grundtöne als Bezugspunkte stets gegenwärtig. Die ersten beiden Sätze – ein Präludium in G sowie ein expressives Adagio, dessen Eingangsformel g – as – c – h wie eine Variante barocker Kreuzigungssymbolik anmutet – lassen sich als Studien in „suggerierter“ Zweistimmigkeit charakterisieren, einer Kompositionsweise, wie sie auch Bach und Reger in ihren Solowerken für Streicher praktizierten: Die Linienführung des unbegleiteten Instruments springt ständig zwischen gedachtem Diskant und gedachtem Bass hin und her. Ganz anders der letzte Satz, ein fließendes Allegro, das auf dem Grundton E basiert und im Gestus ein wenig an den mittleren Hindemith gemahnt. Da nirgends hohe spieltechnische Anforderungen gestellt werden, kultiviertes, sauberes Spiel fernab jeder Brachial-Cellistik aber unbedingt erforderlich ist, eignet sich das gut gemachte, nicht allzu anspruchsvolle Stück durchaus als Studien- und Vortragsliteratur für fortgeschrittene Schüler.
Gerhard Anders