Say, Fazil

Sonata for Violin and Piano

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2007
erschienen in: das Orchester 06/2007 , Seite 76

Dieses bemerkenswerte neue Kammermusikwerk steht exemplarisch für globale, interkulturelle Weltmusik. Der Komponist verfügt souverän über alle Stilmittel. Das Stück zeigt eine gelungene Integration folkloristischer Elemente in einen avantgardistischen Kontext. Die fünf Sätze bilden einen formal geschlossenen Kreis durch die wörtliche Wiederholung des ersten Satzes am Schluss. Say stellt im Vorwort sein inneres Programm vor: Der 1. Satz fungiert als Introduktion und bildet auch den Epilog. Die an eine verfremdete Romantik erinnernde Klangwelt entführt traumhaft in die Fantastik der Mittelsätze. Diese sind konzipiert als eine imaginäre Reise durch Anatolien. Die Verbindung türkischer Volksmusik mit Klängen einer postmodernen Avantgarde macht den Reiz dieser Sonate aus. Der 2. Satz mit dem Titel „Grotesque“ entführt zu einem ausgelassenen alt-ottomanischen Gelage. Im Mittelteil, einem Scherzo, werden Klänge von Kanun (türkisches Hackbrett), Ud (türkische Laute) und Trommeln imitiert, wobei die Bassregion des Flügels präpariert werden muss. Im 5. Satz, einem wirbelnden Perpetuum-mobile-Presto, imitiert die Violine das Spielen
der Kemence (einer kleinen türkischen Fiedel) in einem Horon (wilder Schwarzmeertanz). Schließlich wird im 4. Satz, betitelt „Anonym“, Andante, ein türkisches Volkslied zitiert.
Nun fragt sich der interessierte Geiger: Muss ich das alles wissen, um ein neues Stück kennen zu lernen? Denn auch ohne genaue Kenntnis des Programms handelt es sich hier um ein lebendiges, spielfreudiges, aber anspruchsvolles, reizendes Stück. Der 1. Satz versöhnt mit einer konventionellen Rhythmik, sinnvollen Wiederholungen auf der Basis vielfach ostinat wiederkehrender Klangmuster. Eine eindeutig auf fis zentrierte modale Harmonik mit Ganztonpassagen bildet die Folie für eine mit Dämpfer vorzutragende Kantilene der Violine, die um den fis-Moll-Dreiklang (mit chromatischen Nebennoten) kreist – als Einstieg für Spieler und Zuhörer wohltuend!
Auch die Mittelsätze sind jeweils auf tonale Zentren bezogen. Der 2. Satz basiert auf der Zigeunermoll-Tonleiter auf C. Durch kompakte, clusterartige Mischklänge wird die Tonalität verschleiert. Bemerkenswert und schwer zu spielen sind die Rhythmen. Im 15/8-Takt erklingt ein ostinater Rhythmus (5+2+5+2+5 +2), aus dem sich eine Art Fughette ergibt. Das „Perpetuum mobile“ hat das tonale Zentrum e, das aber durch chromatische Mischklänge denaturiert wird. Das Anfangs-e der Violine ist in jeder neuen Phrase einen Viertelton tiefer zu spielen. Eine durchlaufende Sechzehntelfigur sorgt für einen unwiderstehlichen „Drive“, die anhaltende dynamische Steigerung wird unterstützt durch immer weiter ausgreifende Weitung des Tonraums und extensive Doppelgriffe der Geige, was zu einem explodierenden Klangrausch führt – der dynamische Höhepunkt der Sonate!
Im 4. Satz sorgen Flageolett-Klänge der Geige, gedämpfte Klaviersaiten und Pedaleffekte für visionäre Sphärenklänge. Diese wirkungsvolle und stilistisch gelungene Komposition ist für Konzertaufführungen gut geeignet und allen Spielern warm zu empfehlen.
Otto Junker