Haaf, Albrecht

So im Vorüberwehn

Zyklus über fünf Gedichte von Hermann Hesse für gemischten Chor (SATB) und Klavier, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2016
erschienen in: das Orchester 11/2016 , Seite 64

Eigenwillig habe er an der literarischen Moderne „vorbeigeschrieben“, urteilt die Münsteraner Literaturwissenschaftlerin Cornelia Blasberg über den Dichter Hermann Hesse (1877-1962). Ob gerade deswegen, oder eher trotzdem – seine Dichtung wurde und wird von vielen Menschen in hohem Maße als sinnstiftend erlebt.
Auch Albrecht Haaf (geb. 1953), Musikschulleiter, Pianist und Chorleiter im badischen Müllheim (Markgräflerland), hat sich als Komponist von Hesses nachdenklichem Gedicht Stufen zu einem Zyklus von fünf Chorliedern anregen lassen. Im Vorwort zu seiner Komposition äußert Haaf vorsichtige Zweifel, ob der Dichter „die musikalischen Einflüsse meiner Vertonungen aus den Bereichen Impressionismus, Jazz oder Pop goutieren könnte“. Sicher nicht weniger, möchte man meinen, als seine Rezeption in den hippie-bewegten 1960er und 1970er Jahren oder das Bekenntnis des alten Deutschrockers Udo Lindenberg zu ihm als „persönlichem Klassiker“.
Musikalisch benennt Haaf wich­tige stilistische Einflüsse, wobei die Besetzung mit einem anspruchsvollem Klavierpart einerseits auf die traditionelle Pop-Ballade, andererseits aber auch auf das romantische Klavier- und Chorlied verweist. Elemente der Neuen Musik finden sich am ehesten noch im ersten Lied des Zyklus, Blauer Schmetterling, in einem diatonischen Cluster der Chor­stimmen. Der Chorpart ist so gehalten, dass er von einem ambitionierten Laienchor ansprechend bewältigt werden kann: zumeist homofon und in gut singbarer Lage. Wichtige Einsätze werden meist vom Klavier gestützt, das harmonisch und rhythmisch die komplexeren Aufgaben zu bewältigen hat.
Seine besonderen Qualitäten als mehrfach ausgezeichneter Chorkomponist zeigt Haaf, der an der Schola Cantorum in Basel auch Alte Musik studiert hat, bei den ersten vier Liedern in der sprechenden Führung der Singstimmen und in der differenzierten Textausdeutung. In Der blaue Schmetterling wird der Chor von bewegten Arpeggien des Klaviers getragen; dazwischen steht eine schwerelos schwebende Passage von Triolen. Der Kreuzgang von San Stefano beginnt mit einer meditativen Klaviereinleitung, die in der Begleitung des Chorsatzes nachklingt, jedoch Raum lässt für die Textausdeutung durch polyfone Auflockerung oder bewusst eingesetzte Melismen. Im Liebeslied Für Ninon übernehmen die Männerstimmen die Führung.
Stufen, das längste Gedicht, stellt auch musikalisch den höchsten Anspruch. Hier scheint mit 84 Schlägen pro Minute der Alla-Breve-Puls zu schnell angegeben. Offensichtlich möchte der Komponist falsches Pathos vermeiden. Doch sobald der im einzelnen Klavierton symbolisierte Glockenschlag sich zur akkordisch geprägten Achtel-Bewegung auflockert – ein faszinierender Effekt! –, entsteht die Gefahr der Hektik. Dass in der dritten Strophe, die inhaltlich die irdische Existenz transzendiert, die Klavierbegleitung den Chorsatz im Pianissiomo nicht mehr in die Tiefe, sondern in die Höhe erweitert, ist eine weitere textausdeutende Überraschung im Satz, der stimmig mit dem Glockenschlag ausklingt.
Andreas Hauff