Schubert, Franz

Sinfonie Nr. 8 C-Dur

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony Classical 88883729982
erschienen in: das Orchester 01/2014 , Seite 78

In der Tat: Diese Interpretation verlässt den üblichen Pfad und bietet Ungewohntes, was bei einem solchen sinfonischen „Schlachtross“ nicht gerade einfach ist. Denn mit der Großen C-Dur-Sinfonie, um dem Zähl-Dilemma (Nr. 7, Nr. 8, Nr. 9?) aus dem Weg zu gehen, hat man es schon schwer, „neue Bahnen“ zu betreten. Thomas Hengelbrock hat sich im Laufe der Jahre mit vielerlei Musik beschäftigt: mit „alter“ bis zeitgenössischer. Doch was auch immer auf dem Pult lag: Dem Dirigieren ging eine intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Umfeld, dem musikhistorischen Kontext voraus. Hengelbrocks musikwissenschaftliche Ausbildung und seine Prägung durch Nikolaus Harnoncourt haben ihn denn – insbesondere mit seinem Balthasar-Neumann-Ensemble – zum Spezialisten für die historisch informierte Aufführungspraxis werden lassen. Seit 2011 ist er Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, setzt andere Repertoire-Schwerpunkte, verblüfft mit unkonventioneller Programmgestaltung.
Die neue Schubert-CD belegt nun eindrucksvoll, wie befruchtend die Beschäftigung mit früher Musik für Interpretationen von Werken des 19. Jahrhunderts sein kann. Hengelbrock beruft sich auf Zeugnisse der Schubert-Zeit, die belegen, dass die Tempi der verschiedenen Themen eines Satzes durchaus flexibel waren – eine Variabilität, die in späterer Zeit verloren ging. „Diese Schubert-Aufnahme ist auch ein Plädoyer für Flexibilität im Tempo“, erläutert der Dirigent seinen Interpretationsansatz. Und das ist tatsächlich neu und frappierend: Wird man als Musiker vom Lehrer oder Ensembleleiter gerne mit dem Hinweis: „Nicht langsamer werden, wenn eine schöne Melodie kommt!“, zurechtgewiesen, perfektioniert Hengelbrock die Tempo-Modifikation. Während Scherzo und Finale – durchweg energiegeladen musiziert – sich für diese Herangehensweise weniger eignen und deshalb mehr in gewohntem „Fahrwasser“ verlaufen, verblüffen die beiden ersten Sätze. Nach der stimmungsvollen Einleitung beschleunigt der Dirigent vor dem Allegro ma non troppo unmerklich und gleitet nahtlos in das schnellere Tempo über. Vor dem zweiten Thema kündigt eine winzige und überraschende Atempause das Verlangsamen des Satzes an, ehe das melodische Gegenthema im Charakter dann ruhiger dahinfließt. Hengelbrock versteht sich hier als Tempodramatiker, der die Flexibilität bewusst strukturierend als interpretatorisches Agens benutzt. Dies geschieht dabei jederzeit organisch, nicht aufgesetzt und ohne den großen sinfonischen Bogen zu verlieren.
Das blendend aufspielende NDR Sinfonieorchester folgt den Intentionen seines Chefdirigenten: Die schönen Holzbläsersoli im zweiten wunderbar verströmenden Satz vermögen ebenso zu überzeugen wie das markante, nicht aufdringliche Blech und die Streicher mit einem warmen, aber auch kompakten „Sound“. Doch bei aller gelegentlichen sinfonischen Robustheit: Thomas Hengelbrock zaubert mit seinem Orchester einen durchsichtigen und schlanken Gesamtklang. Ein virtuoses Finale schließt diese durch und durch schlüssige und aufregende Interpretation, abseits des Gängigen, ab.
Wolfgang Birtel