Schostakowitsch, Dmitri

Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 60

"Leningrader"

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Avie AV 0020
erschienen in: das Orchester 06/2007 , Seite 80

Das WDR Sinfonieorchester Köln hat in jüngster Zeit eine beachtliche Kompetenz in Sachen Schostakowitsch errungen. Das betrifft natürlich in erster Linie die (auch wenn sie noch gar nicht so lange auf dem Markt ist) mittlerweile legendäre Gesamtaufnahme der Sinfonien unter Rudolf Barschai bei Brilliant Classics – trotz einzelner kleiner Schwächen eine Einspielung mit Referenzcharakter. Bei dem von Musikwelt vertriebenen Label Avie liegen nun mittlerweile vier Schostakowitsch-CDs unter der Leitung von Semyon Bychkov vor, der dem Orchester seit 1997 als Chefdirigent verbunden ist. Mit den Berliner Philharmonikern hatte Bychkov bereits in früheren Jahren einige Schostakowitsch-Sinfonien aufgenommen (Philips), und zwar die Fünfte, die Achte und die Elfte. Die letzten beiden hat er auch mit dem WDR Sinfonieorchester eingespielt und weiters die „Leningrader“ (Nr. 7) sowie als aktuelle Veröffentlichung die Vierte. Die Aufnahmen entstanden zwischen 2001 und 2005; ob ein Gesamtzyklus in Arbeit ist, wird man sehen.
Zwei Dinge werden nach dem Hören der Avie-CDs schnell klar: erstens, dass sich Bychkovs Sicht auf die Partituren seit seinen Berliner Aufnahmen deutlich vertieft hat, und zweitens, dass sich das Orchester in der Musik Schostakowitschs inzwischen völlig zu Hause fühlt. Die Leistung des Klangkörpers lässt keine Wünsche offen; beispielhaft die Klanglichkeit der Holzbläsergruppe, die in Schostakowitschs Partituren stets die persönlichsten Beiträge liefert; wunderbar auch die Flexibilität und Homogenität der Streicher, die jene irrwitzige Fuge im Kopfsatz der Vierten mit einer Leichtigkeit angehen, die buchstäblich den Atem raubt.
Bychkovs Interpretationen verbinden Energie mit struktureller Übersicht und insbesondere einer wunderbar transparenten Offenlegung des Innenlebens; gerade in der Vierten gelangen zahlreiche wichtige orchestrale Details zu Gehör, die sonst im Eifer des Gefechts untergehen. Was sich bei Bychkov nicht oder nur selten findet, ist der Mut, emotional bis zum Extrem und darüber hinaus zu gehen. Es bleibt stets eine gewisse Reserve spürbar. Im Falle etwa der „Leningrader“ schlägt dies durchaus positiv zu Buche, da der rein musikalische Wert des Werks über die zahlreichen dynamischen Materialschlachten hinaus deutlich wird.
In der gigantischen Achten jedoch, jenem in Kriegszeiten entstandenen Requiem für die Opfer der Gewalt gleich welcher Coleur, erreicht Bychkov nicht immer eine hundertprozentige Identifikation mit dem, was sich außerhalb des reinen Notentextes abspielt. Trotz orchestraler Meisterleistung bleibt die Erschütterung, die aus dem musikalischen Geschehen resultieren sollte, weitgehend aus.
Deutlich besser gelingt die Vierte; insbesondere die groteske Parade diverser Bläsersoli im Finale erklingt in der gebotenen geschliffenen Ironie. Ausgerechnet im katastrophischen letzten Höhepunkt und der nachfolgenden desolaten Coda ist jedoch ein leichter Spannungsabfall zu verzeichnen – sowohl aufgrund des allzu langsamen Tempos, das den charakteristischen Rhythmus des Herzschlags über Gebühr aufweicht, als auch bezüglich des (ansonsten, wie bei den anderen drei Einspielungen auch, hervorragenden) Klangbilds, das hier den pulsierenden Bässen zu wenig Gewicht zuweist.
Auf bewunderungswürdige Weise gelungen und daher der bisherige Höhepunkt von Bychkovs Schostakowitsch-Deutungen ist die Einspielung der Elften. In einem Geleitwort beschreibt der Dirigent seine Sichtweise des früher oft missverstandenen Werks – dass in ihm nämlich kein finaler Sieg gefeiert würde, sondern die Fragen offen blieben. Seine Interpretation bezieht deutlich Stellung, ohne die programmatischen Aspekte überzubetonen; die eisige Stille des Kopfsatzes (mit vorbildlich deutlichen und perfekt gestimmten Pauken) geht unter die Haut, der ambivalente Schluss des Finales erklingt selten so drohend und gleichzeitig lakonisch. Und wann erheben sich die Glocken, die das letzte Wort haben, sonst schon einmal derart präsent über das Geschehen?
Thomas Schulz