Bruckner, Anton

Sinfonie Nr. 5 in B-Dur

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Deutsche Grammophon 00289 477 5377
erschienen in: das Orchester 09/2005 , Seite 90

Das erste, was man von Christian Thielemanns frenetisch gefeierter, harsch kritisierter Einspielung der fünften Bruckner-Sinfonie hört ist: nichts. Drehen wir also den Lautstärkeregler drei Zentimeter nach rechts, und alles noch Mal von vorn. Jetzt ahnt man in der Tiefe die absteigende, hingetupfte B-Dur-Skala der Bässe. Dann schleichen sich die hohen Streicher mit dem Leitintervall der kleinen Sekunde ins Werk, bauen vorsichtig eine eng gesetzte Melodielinie auf – gleichsam als Bestätigung des Irdischen.
Von hier aus kann wie eine Rakete ein punktiertes Dreiklangsmotiv fortissimo empor schießen gen Notenhimmel. Extreme, Erhabenheit, Größe will Thielemann vorführen, und es gelingt ihm. Der Beginn verspricht, was die ganze Sinfonie hält: keine analytische Schärfe, sondern hohe Klangweihe; ein Gänsehaut-Bruckner, in dem Celibidaches Kult der Langsamkeit bedeutungsschwere Auferstehung feiert, in dem süffige Choräle und Blechorgien religiöse Gefühle beim Zuhörer wecken sollen.
Auch wenn er selbst die Genese etwas anders beschreibt: Christian Thielemann hat Bruckners Fünfte mit großem historischen Gespür für sein erstes Konzert als Leiter der Münchner Philharmoniker ausgewählt und dann live eingespielt. Mit dem gleichen Stück hatte Sergiu Celibidache 1985 den Münchner Gasteig eröffnet, 1935 brachten die Philharmoniker die Originalfassung von 1878 zur Uraufführung. Thielemann hat es sich auch nicht nehmen lassen, auf drei Booklet-Seiten eigenwillige Ansichten zur Sinfonie darzulegen. Nicht St. Florian und Österreich tauchten dabei vor seinem inneren Auge auf, sondern „die großen Wälder und Bäume in Ostpreußen“ mit ihren alten Eichenalleen oder „die Marienkirche in Danzig“ – Bilder, die im Verbund mit Bruckner einen Nachgeschmack hinterlassen.
Thielemann wirbt um Verständnis für Langsamkeit und das Feuer „unter der Oberfläche“. Er bedient auf breitem Raum das Klischee vom aufs Orchester übertragenen Orgelklang. Und will seinen Zuhörern um Himmels Willen keine Botschaft aufdrängen. „Stell euch vor, was ihr wollt“, schließt das Statement. Wer so spricht, sieht die Botschaft in sich selbst.
Natürlich – das muss betont werden – ist diese Bruckner-Aufnahme technisch und klanglich herausragend. Dass die Münchner über glänzendes Blech verfügen und überhaupt ein großes Orchester sind, wer wollte daran zweifeln. Gerade diese Qualität aber mag Christian Thielemann dazu verleitet haben, zwischen den Extremen die Zwischentöne zu vergessen. Sicher: Man kann sich kaum großartigere Steigerungswellen vorstellen, als er sie im zweiten Satz zelebriert.
Doch warum muss jedes pianissimo noch leiser, jedes fortissimo noch lauter gespielt werden, warum muss jede Pause länger sein, als Bruckner es vorschreibt? Allzu oft zerfällt der Satz unter Thielemanns schleppendem Dirigat, das Scherzo vor allem ist ein wahres Schlafmittel und das langsame Tempo folglich nur Selbstzweck. Der vierte Satz – Bruckners kontrapunktisches Meisterwerk – ist aufs erste angenehm und süffig zu hören, leidet aber unter akuter klanglicher Verfettung. Thielemann schert sich wenig um Bruckners genau vorgegebene Akzente und noch weniger um die vorgeschriebenen Bogenstriche – und schafft es folglich nicht, das komplexe Stimmengeflecht zu durchlüften.
Kühne Zukunftsmusik ist bei dieser Aufnahme also wahrlich nicht zu hören. Wer danach sucht, sollte die kürzlich erschienene Einspielung der gleichen Sinfonie von Nikolaus Harnoncourt zur Hand nehmen.
Johannes Killyen

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