Gürsching, Albrecht

Sinfonie Nr. 5

"Homo homini lupus"

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Eigenverlag, Pinneberg 2008
erschienen in: das Orchester 03/2009 , Seite 60

Vielgestaltig, ausdrucksstark und innovativ in Form und Struktur, Besetzung und Sujet ist das Œuvre des 1934 in Nürnberg geborenen Komponisten, Oboisten und langjährigen Professors für Theorie/Komposition, Oboe und Bläserkammermusik an der Musikhochschule Hamburg Albrecht Gürsching, dessen Schaffenskraft im wohlverdienten (Un-)Ruhestand stärker denn je scheint – jedoch auch kritischer, härter, düsterer, desillusionierter angesichts des Zustands dieser Welt, die ihm immer auch Inspiration zum Komponieren bietet. In Gürschings neuer Sinfonie – einer geschichtsträchtigen Fünften – kommt dieser gegenwartskritische Impuls in aller Schärfe zum Ausdruck: ein wütend-trauriges Stück kammermusikalisch aufgelichteter Orchestermusik, deren Titel den bekannten Spruch des Plautus zitiert und deren drei Sätze Stationen des barbarischen 20. Jahr­hunderts behandeln, nicht zuletzt anlässlich der Empörung über das Fortwirken der „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) heute.
Das Andante des ersten Satzes – „Das Böse kommt“ – eröffnet mit crescendierendem Paukenwirbel auf akzentuierten Vierteln eine grelle, instrumental durchbrochene Chromatik-Gestik aufwärts, deren punktiertes Kleinsekund-Grundmotiv in den Figurationen und Feldern des sich entwickelnden Klangsatzes (in der Tradition des Lehrers Günter Bialas) ebenso aggressiv wie leidend wirkt (Anklänge der Matthäuspassion schimmern hier durch). Nach großer Steigerung beginnt ein neuer Entwicklungsschub mit einer augmentierten pp-Variante des Grundmotivs im tiefen Fagottregister, die zu neuen aggressiven Repetitionen, Kaskaden und Kulminationen geführt wird, bis der Satz nach letztem Aufbäumen in einer verlöschenden Katabasis endet.
Der zweite Satz – „Requiem“ – „gilt allen Opfern dieser Zeit“ (Albrecht Gürsching) und verwandelt im für eine Totenmesse ungewöhnlichen 3/8-Takt die Schritt- und Marschfiguren des ersten Satzes in eine unendlich verlangsamte „stehende Musik“, einem statischen Tanze gleich, unterbrochen von vereinzelten Klagerufen, bis zu einem zaghaft hoffenden Melodiefragment in den Violinen – unterlegt werden kann hier der Text „Et lux perpetua luceat eis“ aus dem Introitus des Requiems –, das alsbald jählings zertrümmert wird. Der kurze dritte Satz inszeniert einen fugierten „Galop infernal“, der ebenso wie der zweite Satz auf bereits exponierte und entfaltete Materialien zurückgreift und nach fulminanten Phasen turbulenten Furors in einem pointillistischen Pianissimo verebbt und verschwindet.
Das „Böse“ bannen, indem man es ins Werk setzt, dies könnte den Gehalt des singulären Werks bezeichnen, dessen Betroffenheit in einem gekonnt strukturierten Expressivgefüge gründet, das auch ohne „Programm“ bestehen kann. Zu wünschen sind dem mutigen Werk, das – Ausweis für Qualität – ästhetisch zwischen allen Stühlen sitzt, Ur- und Folgeaufführungen in möglichst vielen Kulturorchestern, deren Programmkultur Albrecht Gürschings 5. Sinfonie ohne Zweifel zu bereichern vermag.
Wolfgang Rüdiger