Tschaikowsky, Peter Iljitsch
Sinfonie Nr. 4 / Romeo und Julia / Nussknacker-Suite
Gnadenlos schlägt das Schicksal zu. Unbarmherzig rufen schneidende Blechbläserakkorde wie zum jüngsten Gericht. Ein Entkommen ist nicht möglich. Packend inszeniert Dirigent Günther Herbig mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken die erschütternde Selbstzerfleischung im Kopfsatz der vierten Sinfonie von Tschaikowsky. Dass das Damoklesschwert, das über unseren Häuptern hängt, so der unglückliche russische Komponist in seinem an die Widmungsträgerin und Gönnerin Nadeschda von Meck geschriebenen Programm, bei Herbig dermaßen geschärft ist, dafür sorgt freilich auch die Tontechnik mit einem ganz besonders strahlenden Klangbild. Hart und klirrend zerbricht das Glück. Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit wirken dabei wie ein masochistisches Entgegenstrecken zu allem, was Leiden schafft. Das ist so klar, realistisch, ja schmerzend dargestellt, dass der Umbruch im zweiten Thema, die Flucht vor der Wirklichkeit, nur schwer gelingen mag, auch wenn Herbig sich für diesen Wandel Zeit nimmt, den Hörer nicht unmittelbar auf eine weltflüchtende Umlaufbahn hinaus katapultiert. Die Saarbrücker bleiben lebensnah, gönnen sich noch nicht die Ruhe für einen träumerischen Umschwung. Da erinnert viel an Leonard Bernsteins I am Tschaikowsky-Agonie. Auch Herbig distanziert sich nicht, sucht das direkte Erleben von Seelenkampf und -krampf und damit gelingt ihm etwas Besonderes unter den vielen belanglosen Einspielungen von Tschaikowskys Vierter.
Des homosexuellen Komponisten einsame Melancholie des zweiten Satzes taucht Herbig freilich in zarte Töne sentimentaler Erinnerung, was fast ein wenig Süße in den Streicher-Sequenzen gegenüber der Blechbläser-Bitternis des ersten Satzes bringt. Im pittoresken Pizzikato-Scherzo findet Herbig sogar die eine oder andere Idylle, bevor er sich im Finale mit motorischer Vehemenz wieder in die Gemüts-Orgie dieser zerrissenen russischen Seele stürzt. Herbig inszeniert mit dem willig folgenden Orchester einen Wirbel aus Volksmelodien und Schicksalsmotiv, an dessen Ende er ganz im Sinne von Tschaikowsky der Lebensfreude freien Lauf lässt.
Diesen leidenschaftlichen Impetus bewahrt sich Herbig, der im vergangenen Jahr die Chefdirigenten-Position bei den Saarbrückern an Christoph Poppen abgegeben hat, auch für die Romeo und Julia-Fantasieouvertüre. Liebe, Zuneigung, Erregung und Sehnsucht werden hollywoodreif inszeniert aber nie wie eine C-Schnulze, sondern als großes Kino: sinnlich, passioniert, packend.
Da sind die Tänze der Nussknacker-Suite nach dieser Liebesvision eine nette, unbeschwerte Zugabe, um Tschaikowskys ganzes Gefühlsspektrum zu beleuchten. Ein geistvoller, mitreißender Abschied Herbigs von den Saarbrückern samt Schlussapplaus: eine kleine Verbeugung vor Herbig.
Christoph Ludewig