Mahler, Gustav

Sinfonie Nr. 1 “Titan”

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Coviello COV 31002
erschienen in: das Orchester 09/2010 , Seite 70

Kein Zweifel: Bei den Tonaufnahmen gibt sich das Staatsorchester Braunschweig nicht mit Kleinigkeiten ab. Zu Buche stehen seit 2005 unter anderem César Francks d-Moll-Sinfonie, das Heldenleben und die Alpensinfonie von Richard Strauss, sodann die monumentale dritte Sinfonie von Gustav Mahler. Und nun Mahlers erste Sinfonie.
Welcher Strategie diese Auswahl folgt, sei dahingestellt und soll hier nicht Gegenstand der Überlegungen sein – auch nicht die Tatsache, dass alle Aufnahmen beim Label Coviello erschienen sind, das eigentlich recht experimentierfreudig ist. Widmen wir uns der Musik, die zum Populärsten gehört, das Mahler geschrieben hat.
Entstanden ist das Werk 1888 in Leipzig, uraufgeführt wurde es 1889 in Budapest. Ihm einbeschrieben ist das Ringen um die Gattung – ein innerer Widerstreit zwischen Sinfonie und Sinfonischer Dichtung, an das der vom Komponisten ungeliebte Titel Titan erinnert. Denn obgleich Mahler ein geheimes Programm der Sinfonie preisgab, wollte er später davon nichts mehr wissen. Seine Erste ist also gewiss keine Programmmusik.
Und doch vermittelt sie – obgleich ein Frühwerk – schon einen Eindruck vom Mahler’schen Welttheater, in dem Hohes und Tiefes, Romantisches und Plärrendes, Edles und Profanes direkt nebeneinander stehen. Diese Extreme auch darzustellen, ist für die Interpreten Pflicht, wobei sie auf einem schmalen Grat zwischen Über- und Untertreibung wandeln.
Alexander Joel und das Staatsorchester Braunschweig leisten sich bei diesem durchaus schwierigen Gang im Prinzip keine Fehltritte. Da flirren am Anfang die Streicher, schmettern von Ferne die Trompeten, der zweite Satz brummt gemütlich vor sich hin, der dritte mit der Bruder-Jakob-Parodie gerät in Maßen grotesk. Alles richtig und schön also – und trotzdem ein wenig zu brav. Kleine Übergänge, die andere Dirigenten für urplötzliche Beschleunigungen oder Stimmungswechsel nutzen, werden arglos überlaufen. Und die Ländler sind ein Stück zu städtisch, zu glatt. Die Hörner – das ist eine Anfrage an die Tontechnik – gehen oft unter.
Es wäre also eine solide, wenig aufregende Aufnahme – wäre da nicht das Finale, das wie ein Fanal in die Ruhe des dritten Satz hereinbricht. Alle Unruhe und Verunsicherung, die Mahler in seiner Welt bewegen, treten hier jäh hervor. Und lassen in der Intensität bis zum Schluss nicht nach – ein Qualitätskriterium, an dem (zumindest im Konzert) schon manches berühmte Orchester gestrauchelt ist. Die Braunschweiger meistern das alles ohne mit der Wimper zu zucken – und vielleicht suchen sie demnächst sogar noch nach Lücken im Repertoire.
Johannes Killyen